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S. (Münster):
Rocker: Nationalismus und Kultur
"Für die Freiheit gibt es keinen Ersatz, kann es nie einen Ersatz geben." (1)
Rudolf Rocker: Nationalismus und Kultur. Korrigierte u. erg. Neuausg. des
zuerst 1949 unter dem Titel Die Entscheidung des Abendlandes erschienen Werkes.
Münster: Bibliothek Thélème, 1999, 78 DM, ISBN 3-930819-23-6
"Staaten schaffen keine Kultur, wohl aber gehen sie häufig an höheren Formen der
Kultur zugrunde. Macht und Kultur im tiefsten Sinne sind unüberbrückbare
Gegensätze."(S. 71)
Immer wieder ein befreiendes Buch! Eine schöne Ausgabe! Neu gesetzt, in einem
Band statt der früheren zweibändigen Ausgaben, mit dem Vorwort zur italienischen
Übersetzung von 1958, das sich für die föderative Vereinigung Europas stark
macht (und in dem leider nochmals die zeittypische Hoffnung ausgedrückt wird,
die Atomkraft könne "ein Werkzeug für die Zwecke des Friedens und der
allgemeinen Wohlfahrt werden" (S. 572). Heiner Becker hat die Bibliographie
ergänzt und ein instruktives Nachwort über Autor und Werk verfasst, geholfen
haben bei der sicherlich teuren Realisierung des Projekts das Libertäre Kultur-
und Aktionszentrum Hamburg und die FAU Hamburg. Da können wir gratulieren und
dem Buch eine weite Verbreitung wünschen!
Die Auswahl-Bibliographie der Schriften von und über Rocker ist sehr nützlich
und zeigt den Internationalisten Rocker, auch wenn sich über die zweckmäßige
Ordnung der Titel streiten lässt.
Was nun vielleicht fehlt, kann und sollte durch die öffentliche Diskussion der
LeserInnen erarbeitet und ergänzt werden. Dazu würde vor allem der inhaltliche
Vergleich mit anderen Kritiken des Nationalismus gehören, etwa mit Hobsbawm.
Mir scheint der Vergleich mit Ernest Gellners Überlegungen zum Nationalismus
interessant. Gellner geht wie Rocker davon aus, dass nicht Nationen Staaten
bilden, sondern eher Staaten und Möchtegern-Staaten Nationen. Gellner verwendet
aber nicht wie Rocker einen emphatisch-normativen Kultur-Begriff, die
Begrifflichkeit von "Kultur" kann natürlich kritisch betrachtet werden (2).
Was Zygmunt Bauman über die vereinheitlichende Gewalt der Moderne geschrieben
hat, seine Soziologie des Fremden, gehört auch unbedingt in eine Diskussion von
Rockers älteren Ansätzen. Denn die zwanghafte Einheit, Disziplin, Gewalt der
Nationalstaaten und damit der Ausschluss der Nicht-Dazugehörigen und ihre
Verfolgung, auch die Bestimmung des Feindes als Wesen der Politik (Carl Schmitt)
sind mit nationalistischen Bewegungen und Weltanschauungen immer verbunden.
In Rockers Buch gibt es auch Aussagen, die zunächst nicht in die neoliberale
Welt zu passen scheinen, er hat die Drohung umfassender Verstaatlichung vor
Augen, was angesichts seiner Erfahrungen und der Entstehungszeit des Buches
nicht verwundert. Das Buch ist m.E. aber gerade deshalb geeignet, auf die
Gefahren hinzuweisen, die überall da drohen, wo der schöne Schein ökonomischer
Prosperität zerbricht. Es bietet eine umfassende Kritik aller Rechtfertigungen
für Machtpolitik, aller Staatsphilosophie. Dabei sind aber auch die Differenzen,
etwa zwischen Liberalismus und Demokratie, die Rocker nachdrücklich
herausarbeitet (S.137ff) für konkrete Politiken sehr wichtig: Der Liberalismus
geht vom Einzelnen aus, die Demokratie von Rousseaus "Volonté générale", dem
allgemeinen Willen, der nicht identisch ist mit dem Willen der einzelnen, von
einem Kollektivbegriff, dem die konkreten Freiheiten Einzelner und ganzer
Gruppen geopfert werden (S. 154ff). Insofern schließt in Rockers Konzeption der
Anarchismus an den Liberalismus an, ist dessen konsequente Verwirklichung.
Rocker entwickelt seine Thesen an einem reichen historischen Material (sehr gut
ist das Kapitel über die Reformation, das deutlich die freiheitlichen und die
autoritären Tendenzen gegenüberstellt; hier wurden für die deutsche Tragödie in
der Niederlage der aufständischen Bauern und ketzerischen Christen
Vorentscheidungen getroffen). Die deutsche Philosophie und Literatur wird auf
ihre etatistischen und nationalistischen Gehalte kritisch gemustert.
Die (traurige) Aktualität des Buches (3) steht außer Zweifel, denn die
Renaissance der Nationalismen ist sicher eine der bedrückendsten Erfahrungen der
letzten Jahre, und das weltweit.
Viele von uns werden sich erinnern, wie 1977 die Ausgabe, die im Bremer
Impuls-Verlag herauskam, diskutiert wurde. Dass das Format der beiden Bände
nicht ganz übereinstimmte und der erste Band auf grauem Umweltschutzpapier, der
zweite auf weißem gedruckt war, machte alles nichts, es kam ja auf den Inhalt
an.
Schnell füllten sich die Seitenränder mit Ausrufezeichen!!! "Genau, genau!" Das
Rocker-Buch wurde schnell als Munition gebraucht und etwa in unserer Schrift zur
Göttinger Mescalero-Affäre "Feldzüge für ein sauberes Deutschland" zitiert (S.
32): "Schon damals [nämlich während der Hussitenkriege S.M.] zeigte es sich,
dass eine revolutionäre Volksbewegung, wenn sie durch fremde oder eigene Schuld
in einen längeren Krieg verwickelt wird, durch die Verhältnisse selbst dazu
kommen muß, ihre ursprünglichen Bestrebungen aufzugeben, weil die militärischen
Anforderungen alle gesellschaftlichen Kräfte restlos für sich verbrauchen und
damit jede schöpferische Betätigung für die Entwicklung neuer
Gesellschaftsformen zunichte machen. Nicht bloß, dass der Krieg im allgemeinen
verheerend auf die Natur des Menschen wirkt, indem er fortgesetzt an seine
brutalsten und grausamsten Triebe appelliert, die militärische Disziplin, die er
erfordert, erstickt auch jede freiheitliche Regung ..."
Wir suchten und fanden vor allem eine Bestätigung unserer
Sozialismus-Auffassung, eine antiautoritäre, antimilitaristische und
föderalistische Konzeption (4), die sich damals ununterbrochen in
Rechtfertigungszwang gegenüber marxistisch-leninistischen und reformistischen
Parteien sah. Wir waren permanent mit der "ökonomischen Geschichtsauffassung"
konfrontiert und dementsprechend begeistert von einer anderen Konzeption, die
mit einem weiten historischen Horizont argumentierte, viele Motive und Gestalten
einer Geschichte von unten (die Leveller, La Boetie, Thomas Münzer ...) und
zudem Motive, die uns von Bakunin oder Landauer her vertraut waren, aufnahm. Die
Anspielungen an beide sind deutlich; die Grundkonzeption, dass die politische
Macht im Religiösen wurzelt, ist bakunistisch, das Aufblicken zu einer
überlegenen Gewalt der Kern der Misere "nur dass die heutigen Träger der Macht
vielfach bestrebt sind, den religiösen Verehrungsdrang ihrer Bürger
ausschließlich auf den Staat zu konzentrieren..." (S. 47). Und im kleinsten
Machtgebilde ist latent der Wille zur Weltherrschaft verborgen (S. 54), das
paraphrasiert Bakunin. Rocker geht jedoch in seiner Kritik des Nationalismus
wesentlich weiter als die älteren anarchistischen Theoretiker, und meiner
Ansicht nach hat das einen Grund, der mir heute klarer ist als damals: Der erste
Weltkrieg hatte die katastrophal-barbarischen Konsequenzen des Nationalismus auf
den Schlachtfeldern bewiesen. Rockers Buch ist gegen die "Ideen von 1914"
geschrieben, die fast die gesamte deutsche Intelligenz chauvinistisch
produzierte (denken wir an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen")
(5). Die Entscheidung zwischen Autorität und Freiheit, Zentralismus und
Föderalismus stellt sich nach den "letzten Tagen der Menschheit" wesentlich
schärfer. Diesen Zusammenhang konnten wir in den siebziger Jahren nicht so ganz
erfassen, weil uns die Erfahrung fehlte, dass Sätze wie Rocker sie etwa von
Ernst Moritz Arndt oder Heinrich von Kleist (um hier nicht von den Nazis und
ihren unmittelbaren Vorläufern zu reden) zitiert ernst genommen und
handlungsleitend werden könnten. Rocker war während seiner ganzen Zeit in
Deutschland 1919 bis 1933 ununterbrochen mit jenen Korpsstudenten und
Fememördern, Saalschlachthelden und Antisemiten konfrontiert, die sich als
Träger einer höheren Kultur gegen die welsche Zivilisation, gegen "entartete"
Kunst und "undeutsche" Literatur sahen. Deren Ideologien aber waren für viele
erst nach einem zweiten Weltkrieg nicht mehr glaubwürdig. Die Gefahr besteht,
dass eine neue Generation ohne Erinnerung an den Bombenkrieg, aber durch
Leistungsideologie auf Durchsetzung eigener Interessen ohne Rücksicht gedrillt,
den soldatischen Mann und den nationalen Opfergang ihrem durchindustrialisierten
Gehäuse der Hörigkeit vorziehen könnte, etwa wie die Generation, die 1914 ihren
"Aufbruch" erlebte.
Die politische Macht der Minderheiten, die Mehrheiten durch nationalistische
Ideologie und Praxis für sich mobil machen, kann durch gegenseitige Hilfe und
individuelle Verantwortlichkeit, die sich in transnationaler Solidarität
entwickelt, gebrochen werden. Letztlich ist der Sozialismus eine Kulturfrage,
und Rockers Buch macht, trotz alledem, Hoffnung. Zugleich entstehen aber auch
Gedanken der Trauer: Was hätte aus dem Sozialismus seit seinen Anfängen werden
können, wenn er antiautoritär, föderalistisch und großzügig begonnen worden
wäre. Auch das Ende des bürokratischen Sozialismus bestätigt Rocker: er ging
zugrunde an seiner Erstickung individueller Initiative, an seiner Unfähigkeit zu
einer Kultur, die menschliche Bedürfnisse sich selbst organisieren lässt. Am
Ende des "real existierenden" Staatskapitalismus blieb den herrschenden Klassen
der Bürokratie nur eine Entscheidung: An den Nationalismus zu appellieren, um
ihre Macht zu sichern (wie es Milosevic machte) oder von anderen Nationalisten
ersetzt zu werden.
Entnommen von: http://www.graswurzel.net/252/rocker.shtml
Anmerkungen
(1) S. 232
(2) Auch bei manchen Begriffen sollte nicht vorschnell assoziiert werden, was
andere damit meinen und verbinden, sondern nach der Wahrheit der Sache gefragt
werden und danach, welches Problem Rocker damit bezeichnet, ich denke da etwa an
"Masse ist nichts anderes als entwurzeltes Volk" (S. 90) und höre schon Kritiker
schreien "kulturpessimistisches stereotyp" oder Ähnliches.
(3) Eine gute Zusammenfassung: "Rockers Beitrag zur Kritik des Nationalismus"
durch die Mittwochsgruppe Frankfurt a.M. findet sich in GWR 171/173 S. 71-75:
Texte zu Anarchismus und gewaltlose Revolution heute
(4) Die Theorie-Gruppe der Gewaltfreien Aktion Göttingen diskutierte das Buch
neben Mumfords "Mythos der Maschine". Mumford hat Rockers Buch gekannt und
gelobt und war ja selbst von Kropotkin beeinflusst. Beide Bücher haben viele
interessante Ähnlichkeiten. Eine davon ist übrigens die Gegenüberstellung von
"organischen" und "mechanischen" Tendenzen, Organisationen usw., eine
Dichotomie, die kritisch diskutiert werden könnte, weil dieser Topos auch in
konservativen Gesellschaftsphilosophien ein beliebtes Motiv ist. Aber auch die
Ausführungen über den kapitalistischen Großbetrieb, Taylorismus ähneln sich oft.
Die bei Mumford als "Megamaschine" begriffene Zusammensetzung von atomisierten
Industriesklaven beschreibt Rocker etwa S. 248ff oder 516ff
(5) Übrigens: Daß so sehr mit Thomas Manns Lob für Rockers Buch geworben wurde
und wird, hat mir noch nie eingeleuchtet. Natürlich ist dieser nicht bei den
"Betrachtungen eines Unpolitischen" stehengeblieben, aber dank Reich-Ranicki
wissen wir, dass Thomas Mann in seinen späteren Jahren nichts kritisiert und
alles gelobt hat.
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