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Augustin Souchy
Zentralismus und Sozialismus
Die revolutionären Wogen, die das Meer der Völker der Erde im Grunde
durchwühlen, haben durch den Schiffbruch des Krieges Probleme an die Oberfläche
des gesellschaftlichen Lebens gebracht, die früher nur in der Ideenwelt des
Sozialismus ein theoretisches Dasein führten. Die Völker Ost- und Mitteleuropas
sind politisch gereift, die Träume Einzelner, die Theorien großer Denker sind
zum Gegenstand der Betrachtung breiter Volksschichten geworden. Man ist sich
bewußt geworden, dass man ein lebender Teil eines Volksganzen ist, dessen
Aufgaben nicht in der Selbstbefriedigung eines abstrakten Staates liegen,
sondern in der wirksamen Beteiligung jedes Einzelnen an den Angelegenheiten des
öffentlichen Lebens, die nur dann zu einem befriedigenden Austrag gebracht
werden können, wenn das Gedeihen jedes Einzelnen in aller Terminologie
gesprochen, aller Klassen, nicht im Widerspruch mit den größeren Organisationen,
mit den völkischen Einheiten sich befindet.
Hier sind wir aber schon an der Wurzel des sozialen Übels. Alle
Riesenorganisationen des sozialen Lebens, die es sich zur Aufgabe machen,
Menschen mit ökonomischen Interessengegensätzen in einer Einheit
zusammenzufassen, müssen notwendig großen Teilen einen Zwang auferlegen, der
immer Anlaß zu Auflehnungen zur Folge haben wird und den sozialen Frieden, das
gedeihliche Entfalten der kleinen Einheitsgruppen in Land und Stadt aufs
empfindlichste stören muß.
An diesem Zwange ist das Riesenreich der Römer, sind in unserer Zeit die
Riesenstaaten Rußland, Deutschland und Österreich zugrunde gegangen und alle
Staatsgebilde oder sonstigen Organisationen, die auf diesem Prinzip gebaut sind,
sind unweigerlich dem Tode verfallen. In solchen Organisationen ist das Prinzip
der Auflösung im Keime enthalten. Das beste Schulbeispiel hierfür bieten die
deutschen Gewerkschaften, deren Auflösungsprozeß mehr und mehr um sich greift.
Diese geschichtliche Wahrheit ist unumstößlich. Die hieraus zu ziehenden
Schlußfolgerungen sind, daß nur solche Organisationen sich vor dem Zersetzungs-
und Auflösungsprozeß bewahren können, die diesen geschichtlichen Tatsachen
Rechnung tragen.
Von nicht geringem Interesse ist es daher, daß Parteirichtungen, die gegen die
alten Mächte ankämpfen, ja einen Vernichtungskampf auf Leben und Tod mit ihnen
aufgenommen haben, über diese Tatsachen entweder bewußt oder unbewußt sich
vollständig hinwegsetzen, indem sie auf die alte Weise einen neuen
zentralistischen Zwangsstaat an die Stelle des zerfallenden alten setzen wollen.
Leute dieser Art sind die Kommunisten, die jetzt allerorten zur Bildung der
kommunistischen Partei schreiten.
Anläßlich des Umstandes, daß diese Revolutionäre von heute sich es noch
herausnehmen, teils aus Unwissenheit, teils aus Ultramodernismus, die Prinzipien
des Anarchismus und Syndikalismus in plumper Weise bei den noch unwissenden
Massen in Mißkredit zu bringen, ist es hier am Platze, ihre eigenen theoretische
Salbe, die einer Zeit der brühwarmen Köpfe und eiskalten Herzen ihre
Wiedergeburt der schwarzen Küche verdankt, in der adeptische Hegelianer sich
dialektischer Kochkünste befleißigten, einer Analyse zu unterziehen. Die
kommunistischen Wirrköpfe, die nach den berüchtigten Rezepten Dolch, Revolver,
Dynamit arbeiten, dünken sich wunder wie radikal, wenn sie dazu noch die direkte
Aktion auf wirtschaftlichem Gebiet in ihren verschiedenen Äußerungen, wie
Streiks, Generalstreik, Sabotage, passive Resistenz rechnen.
Hier muß zunächst einmal darauf hingewiesen werden, daß gerade diese letzten
Kampfmittel seit Jahrzehnten von den Anarchisten und Syndikalisten propagiert
worden sind, aber da sie nicht von der autorisierten Zentralparteileitung als
Parole herausgegeben wurden, sondern von den abseits stehenden Gruppen oder
vereinzelt stehenden Personen, hat man diese Mittel als Generalunsinn
verschrien. Ist schon die Nichtbeachtung dieses Umstandes seitens der
Kommunisten eine Unverfrorenheit, so ist vollends die Bekämpfung dieser
Bahnbrecher der proletarischen Kampfmittel eine Unverschämtheit, die abgebrühten
Politikern und politischen Plagiatoren alle Ehre mache würde. Rechnet man dazu
noch die sich immer breiter machende Behauptung der Kommunisten, alleinige
Retter des Proletariats zu sein, so ist der vollendete Typus eines Demagogen
fertig.
Die verschiedensten Schriften russischer und deutscher Herkunft über
Bolschewismus und Kommunismus gipfeln in einer Verherrlichung der Diktatur des
Proletariats. Was ist die Diktatur des Proletariats? Die für die Kommunisten
günstigste Definition über die Diktatur des Proletariats gibt ein
Nichtkommunist, Professor Eltzbacher, in seiner Broschüre über den
Bolschewismus. Nach seiner Definition ist die Diktatur des Proletariats nichts
anderes als Diktatur aller arbeitenden Kräfte des Volkes.
In Anbetracht des Umstandes, daß bisher die Nichtarbeitenden über die
Arbeitenden geherrscht und sie ausgesogen haben, ist die Diktatur des
Proletariats gegen die bisherige Diktatur der Bourgeoisie gehalten, freilich ein
Fortschritt. Andererseits meinen doch aber die Kommunisten, daß alle
Nichtarbeitenden zur produktiven Arbeit gezwungen werden sollen. Es gibt dann
also keine Nichtarbeitenden mehr. In der Tat müßte sich eine solche Diktatur des
Proletariats bald als die Herrschaft eines Klüngels über genasführte, verführte
und naive Proletarier entpuppen. Der Anschauungsunterricht, den Rußland und
Ungarn uns unfreiwillig geben, dürfte die Wahrheit der anarchistischen
Behauptung bald bestätigen, daß jede Diktatur, auch die des Proletariats, keine
Aufhebung der Herrschaft, sondern nur eine Ablösung derselben durch eine andere
Form und Clique ist. Denn wenn die Arbeitenden herrschen, dann hat die
Herrschaft doch nur einen Sinn, wenn über andere geherrscht wird; wenn aber
diese andern wieder die Arbeitenden sind, dann wird doch wieder das Proletariat
beherrscht. Eine Herrschaft über sich selbst ist und kann aber niemals eine
politische Organisationsform sein.
Die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats für den Sozialismus von der die
kommunistischen Publikationen so voll sind, ist nicht nur nicht einzusehen,
sondern direkt schädlich und hinderlich für eine wirkliche Befreiung. Es ließe
sich sehr wohl ein Weg denken, auf welchem man ohne die Diktatur des
Proletariats zum Sozialismus kommen kann. Dieser Weg läßt allerdings keinen Raum
für politische Streber, für Demagogen, Geschäftemacher und Volksbeglücker
zweifelhafter Art; läßt keinen Raum für solche, die „in Revolution machen“ und
denen es nach Macht gelüstet.
Auf den Einwand der Kommunisten, daß zur Bekämpfung der politischen Macht des
Staates das Proletariat sich ebenfalls zentralisieren muß, um den
zentralisierten Kapitalismus mit Erfolg bekämpfen zu können, ist zu antworten,
daß durch Paralisierung des Zentralismus der Staat ebenso wirkungsvoll bekämpft
werden kann, ohne daß man dabei Gefahr läuft, durch Errichtung einer neuen
Zentralgewalt den Zwang und die damit verbundene Knechtschaft zu konsolidieren.
Der Zentralismus als Organisationsform der Herrschaft
Die Formen, welche die Menschen zu ihrer Vereinigung wählten, müssen dem Zwecke
entsprechen, den sie mit dieser Organisation im Auge haben. Der Despot, dessen
Absicht ist, das Volk zu beherrschen, betrachtet sich als Zentrum, um welches
sich alles drehen muß, gleichsam wie man in der vorkopernikanischen Zeit
glaubte, daß alle Sterne sich um die Erde drehen. In Deutschland und England,
sowie allen anderen Ländern saßen die Bauern in ihren Maisgenossenschaften und
Clänen als Freie. Da gab es keine Zentralisation. Und doch gab es eine
Gesellschaft, die Menschen lebten in Gemeinsamkeit.
Und als in England zur Zeit der Königin Elisabeth und in Deutschland etwas
früher die städtische Großbürgerschaft in Gemeinsamkeit mit dem Feudaladel die
Bauern von ihrem Lande gewaltsam vertrieben und sie ihres Bodens beraubten, und
als dann später einzelne Heerführer mehrere Städte mit den umliegenden
Ortschaften unterjochten, bildete sich am Hofe dieser Fürsten der Zentralismus
aus, auf dem sich dann die großen Zentralgebilde unserer heutigen
zentralistischen Staaten aufbauten.
Das Organisationsprinzip des Zentralismus machte sich nur für die einzelnen
Herrscher notwendig, die vom einem Orte aus größere Länder zu gleicher Zeit
beherrschen wollten, um Zinsen aus denselben zu pressen. Dazu waren sie
gezwungen, Minister an ihre Höfe zu berufen und Statthalter in die einzelnen
Provinzen zu senden. Nun muß man aber stets daran festhalten, daß dies nicht zum
Leben der unterjochten Völker notwendig war, sondern daß diese zentrale
Regierung lediglich von dem Herrscher, der die Macht erobert, zum Zwecke der
Erhebung von Abgaben und später zur Beeinflussung der Volksmeinung zugunsten des
Fürsten geschaffen war. Durch diese Beeinflussung war es dann möglich, daß man
die Botmäßigkeit des Volkes erreichte, ohne brutale, rohe Gewalt anzuwenden. Zur
Entwicklung der Kultur waren diese großen Zentralstaaten nicht nur nicht
notwendig, sondern nachweislich schädlich. Denn überall, wo die ihre Hand
ausstreckten, da töteten sie das Leben, welches das Volk selbständig
hervorgebracht hatte. Sie zerstörten es, weil sie fürchteten, daß das Volk zu
selbständig werden könnte und zur Einsicht gelange, daß es sein Leben ohne den
Staat viel besser führen kann als mit ihm.
Durch diese systematische Beeinflussung des Volkes und durch die Jahrhunderte
lange Unterdrückung seitens des Zentralstaates, hat man die Völker Europas so
sehr an den Zentralismus gewöhnt, daß die selbst glauben, ohne ihn kein
gedeihliches und kulturelles Leben führen zu können. Ja, sogar Männer der
Wissenschaft und Sozialisten, also Leute, die eine freiere und gerechtere
Gesellschaft anstreben, sind dieser Beeinflussung zum Opfer gefallen. Und zu
diesen gehört auch Karl Marx und die ganze Bewegung, die seinen Lehren folgte.
Es ist aber nicht anzunehmen, daß ein Mann wie Marx, der doch sonst so viel
Gelehrsamkeit an den Tag legte, einer so durchsichtigen und fadenscheinigen
Verfälschung zum Opfer fiel. Man findet aber auch bei Karl Marx und Friedrich
Engels Stellen, wo sie den Staat als Klassenherrschaft bezeichnen und der
Meinung sind, daß eine klassenlose Gesellschaft ohne Staat leben wird.
Wenn man aber den Staat verwirft, dann muß man auch den Zentralismus verwerfen.
Denn ohne Zentralismus kann kein Staat leben. Ohne Zentralismus muß der Staat
zerfallen. Wenn der Staat eine bestimmte Rechtsordnung in einem begrenzten
Gebiete ist, dann kann diese Rechtsordnung nur dann ausgeübt werden, wenn sie
durch eine zentrale Körperschaft, die über eine genügende Waffenmacht verfügt,
aufrechterhalten wird. Verliert aber diese zentrale Körperschaft ihre Macht,
dann zerfällt sie selbst und dadurch also auch der Staat.
Dies schon gibt uns Gelegenheit, darauf hinzuweisen, auf welche andere Weise dem
Sozialismus die Wege geebnet werden können, als durch die Diktatur. Denn eine
Diktatur, mag sie nun die des Proletariats oder die der Kapitalisten oder einer
anderen Klasse sein, kann sich eben nur durch eine zentrale Körperschaft, die
über genügend starke bewaffnete Macht verfügt, erhalten. Wendet aber das Volk
alle seine Kräfte darauf an, diese bewaffnete Macht zu zerstören, dann kommt das
Proletariat seinem Ideale ohne Umwege nahe, die Herrschaft, die es zur
Knechtschaft verdammt, zu beseitigen und die Macht der herrschenden Klassen zu
brechen. Es ist nicht nur schädlich, den Teufel durch den Beelzebub
auszutreiben, d.h. die Diktatur des Bürgertums durch die Diktatur des
Proletariats zu ersetzen, sondern es ist auch logisch unrichtig und führt
deshalb in der Praxis nicht zu dem Ziele, das man anstrebt: die Menschen zu
befreien. Wenn man dies wirklich will, dann darf man jedenfalls nicht den
merkwürdigen Standpunkt einnehmen, die Freiheit durch Errichtung einer neuen
Herrschaft herbeizuführen.
Die Lehre von Karl Marx, durch die Diktatur des Proletariats in eine freie
Gesellschaft zu gelangen, ist also logisch sehr durchsichtig; ob sie aber in der
Praxis zum Ziele führt, ist keinesfalls so evident, wie unsere heutigen
Bolschewiki in Rußland und die Kommunisten in Deutschland es darstellen. Es
liegt mir ferne, über die russische Sowjet- Republik den Stab zu brechen,
insbesondere zu einer Zeit, wo die Reaktion der Kapitalisten aller Länder ihr so
stark zusetzt, daß ihr Bestand sehr gefährdet ist, dies kann mich aber doch
nicht abhalten, der Meinung Ausdruck zu geben, daß durch die Aufhebung der
Diktatur, durch Entziehung und Vernichtung der militärischen Gewalt, durch die
Entwaffnung der Bürgerklasse mittels Streik, Sabotage usw. und nicht durch die
Einsetzung einer neuen Diktatur der Freiheit viel größere Dienste geleistet
werden, als durch die Diktatur, welche doch eigentlich nur bedeutet, der Gewalt
Bärendienste zu leisten.
Immerhin soll zugegeben werden, daß die Diktatur des Proletariats der des
Bürgertums oder einer anderen vorgezogen werden mag, schon allein deshalb, weil
der Grund und Boden sowie die Produktionsmittel der Nutznießung einzelner
entzogen werden, wenn nicht, wie teils in Ungarn, die Gewählten des Proletariats
selbst der Korruption anheimfallen und die erlangte Macht dazu benutzen, sich
persönlich zu bereichern.
Der Despotismus, sowie der kapitalistische Staat sind zentralistisch
organisiert. Die zentralistische Organisationsform ist also charakteristisch für
die Herrschaft. Daß in einer zentralistischen Organisation kein Platz für die
Freiheit ist, leuchtet sofort ein, wenn man sich klar macht, daß nur durch
Disziplin eine solche Zwangsverbindung aufrechterhalten werden kann. Größere
Massen Menschen sind niemals ein und derselben Meinung. Will man aber diese
Menschen ihrem Willen entgegen zusammenhalten, dann kann dies nie auf
freiwilliger Grundlage, sondern nur durch den Zwang geschehen. Die Menschen
müssen in die Organisation hineingezwungen werden, meist gegen ihren Willen und
gegen ihr Interesse. Das Band, das dann eine solche Organisation zusammenhält,
ist die Disziplin. Disziplin bedeutet Zwangsunterordnung, und bedeutet nicht,
wie man von sozialdemokratischer Seite weismachen will, freiwillige
Unterordnung.
Zentralismus ist untrennbar mit Disziplin verbunden. Disziplin aber war die
große Stütze des Militarismus, ohne welche er nicht nur schon viel früher eines
jämmerlichen Todes draufgegangen wäre, sondern ohne welche er gar nicht hätte
entstehen könne. Die Hauptstärke der römischen Legionen, der napoleonischen
Heere, der Armeen Wilhelms, kurz jeder freiheitsfeindlichen Macht lag immer und
wird immer liegen in der Disziplin. Als die Disziplin in den Schützengräben sich
lockerte, da lockerte sich auch gleichzeitig die Macht des deutschen
Militarismus und begann zu sinken.
Muß es da einen nicht höchlichst verwundern, wenn diese Bollwerke der
Knechtschaft, der Zentralismus und die Disziplin jetzt wieder als Grundlage für
die Organisation zur Freiheit dienen sollen? Man ist wirklich sehr geneigt
anzunehmen, daß Menschen, die sich auf diesen Standpunkt stellen, keine
ehrlichen Jünger der Freiheit, sondern höchst zweifelhafte Glücksritter der
Revolution oder bedauernswerte Opfer sklavischer Erziehung sind, denen es noch
nicht gelungen, sich aus dem Sumpfe herrischen Gedankenganges zu retten.
Aus: „Der freie Arbeiter“, Nr. 13/1919
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