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Martin Veith
Rumänien – das unbekannte Land im Südosten
„Bis zur Revolution wird es länger als
ein Menschenleben dauern“
Über Rumänien ist vieles unbekannt. In der Öffentlichkeit tauchen das Land und
seine Menschen in letzter Zeit hauptsächlich in Zusammenhang mit
Umweltkatastrophen und dem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Januar 2007
auf.
Rumänien mit seinen 22 Millionen EinwohnerInnen ist eines der ärmsten Länder
Europas. Über Rumänien lässt sich viel sagen, viele Ereignisse und Entwicklungen
verdienen eine genaue Betrachtung. Nicht nur der Sturz des
nationalistisch-kommunistischen Diktators Ceausescu und die darauffolgende
Machtergreifung des „Sozialdemokraten“ Ion Iliescu sowie die bis heute
bestehende Unterdrückung sexueller Selbstbestimmung. Auch die nahezu allmächtige
orthodoxe Kirche und der Einfluss rechtsextremistischer und faschistischer
Kräfte gehört genauso thematisiert wie die Politik und die Korruption. Dieser
Artikel konzentriert sich auf die soziale Situation im Land, die sozialen Kämpfe
und ihre TrägerInnen. Bis heute existiert in Rumänien keine
anarcho-syndikalistische Bewegung.
Die soziale Situation
Die offiziellen Statistiken berichten von einer Erwerbslosigkeit von knapp 6,0
%. Im Jahr 2002 soll sie noch über 10 % betragen haben. Ein Grund für diese
offiziell niedrige Rate dürfte in der Schwierigkeit begründet liegen,
Arbeitslosenunterstützung durch den Staat zu erhalten. Denn für die
Antragsstellung sind eine Unmenge an Papieren vorzulegen, die zu besorgen viel
Geld kostet, sowie die berühmt - berüchtigte „Cartii Muncii“ erfordert; das
Arbeitsbuch.
Dieses ist ein beliebtes Mittel zur Disziplinierung der ArbeiterInnen. Denn hier
kann jeder Chef, jeder „Patron“ Einträge vornehmen, die darüber entscheiden, ob
der/die Kollegin überhaupt finanzielle staatliche Unterstützung erhält oder
nicht. Fehlzeiten werden aufgelistet, das „Verhalten“ wird bewertet usw. Es ist
ein klares Repressionsinstrument gegen die ArbeiterInnen, das noch aus der Zeit
der kommunistischen Diktatur stammt. Genauso wie eine nahezu allmächtige
Bürokratie, die für alles und jedes eine beglaubigte Bestätigung verlangt. Ein
Unterfangen, das viel Nerven, Zeit und Geld kostet.
Kein Wunder, dass viele in der Bestechung der Beamten einen Weg sehen, Dinge
schneller geregelt zu bekommen. Auf der Strecke bleiben einmal mehr diejenigen,
die arm sind und die die Korruption nicht mittragen wollen.
In Rumänien gibt es einen staatlich festgelegten Mindestlohn, der 310 RON
beträgt. Das sind umgerechnet ungefähr 80 Euro. Der statistische
Durchschnittslohn soll nach offiziellen Berechnungen bei 180 Euro liegen. In der
Realität bekommen die meisten Arbeitenden zwischen 80-120 Euro. Wenn man
bedenkt, dass die üblichen Mieten für ein kleines Zimmer um die 50 Euro liegen,
eine 2-Zimmer Wohnung in Bukarest oder dem westlichen Rumänien oftmals 120 Euro
kostet, ist klar, dass viele Familien jeden Monat von neuem um ihre Existenz
kämpfen. Viele teilen sich deshalb gemeinsam kleine Wohnungen oder Zimmer. In
den letzten Jahren sind beständig die Wasser-, Gas- und Strompreise gestiegen.
Genauso wie die gesamten Lebenshaltungskosten. Reiche westeuropäische Konzerne
wie EON sind in Rumänien „aktiv“ geworden, haben die ehem. staatlichen Betriebe
aufgekauft und privatisiert. Sie versprechen und verdienen sich eine goldenen
Nase am rumänischen Markt.
Unter den Jugendlichen ist die Erwerbslosigkeit besonders hoch. Viele Rumänen
arbeiten im europäischen Ausland, wie z.B. in Spanien und Italien. Einige auch
in Israel. Mit dem meistens geringen Verdienst unterstützen sie ihre Familien
und Freunde zuhause. Auch die Lage der RentnerInnen ist nicht besser. Monatliche
Renten in Höhe von 35 Euro sind keine Seltenheit. Vielen bleibt nur, durch den
Verkauf von Handarbeiten hinzuzuverdienen.
Das Gesundheitssystem ist mangelhaft. Immer wieder kommt es dazu, dass benötigte
Medikamente an berechtigte EmpfängerInnen nicht ausgehändigt werden. Auf der
anderen Seite verdienen Pharmakonzerne Millionen mit dem Verkauf von
Schmerztabletten. Konsultationen beim Arzt kosten viel Geld.
Wirtschaft und soziale Kämpfe
Seit Anfang der 90er Jahre haben sich viele Firmen, größtenteils aus Italien,
den USA, Österreich und Deutschland in Rumänien niedergelassen. Sie produzieren
hauptsächlich für die Textil- und Autoindustrie, beuten die noch vorhandenen
Bodenschätze des Landes aus, sind in der Holzbranche tätig und profitieren von
Niedriglöhnen und nahezu völlig entrechteten ArbeiterInnen. Rumänien ist auch
für seine hoch moderne Waffenproduktion bekannt. In Cugir, einer Kleinstadt in
Transsilvanien, produziert die größte Waffenfabrik des Landes für US-Aufträge.
Sie gehört STC, einer Tochtergesellschaft von Daimler-Chrysler. Neben dieser
industriellen Produktion ist das Land von riesigen landwirtschaftlichen
Nutzflächen geprägt. Vielerorts wird noch von Hand gepflügt und geerntet.
Die stattfindenden sozialen Kämpfe in Rumänien werden von den gewerkschaftlichen
und sozialen Bewegungen anderer Länder oftmals nicht wahrgenommen. Doch sind die
sozialen Konflikte durchaus zahlreich und die organisierte Arbeiterbewegung
existiert in Rumänien seit dem 19. Jahrhundert. Ein Opfer dieses sozialen
Kampfes ist der aktive Gewerkschafter und Metallarbeiter Virgil Sahleanu aus
Iasi. Am 07. September 2000 wurde er von einem bezahlten Killerkommando
erstochen, da er ein Wortführer des Widerstandes gegen die Privatisierung der
Fabrik Tepro-Istat (zum internationalen Mittal Steel-Konzern gehörend) war. Die
Hintermänner des Mordes sind der ehemalige Firmendirektor sowie der tschechische
Investor. In den Mord mitverstrickt ist der Geschäftsführer eines
Security-Unternehmens. Der Widerstand gegen die Privatisierung hatte in der
Stadt Massencharakter angenommen.
Kampf gegen das „Sklavengesetz“
Im Frühjahr 2005 führte die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetzes „Codul
Muncii“ zu großen Protesten und Streiks in vielen Städten des Landes. Unter der
Parole „Codul Muncii – Codul Sclavi“ (Arbeitsgesetz – Sklavengesetz) zogen
ArbeiterInnen verschiedenster Branchen auf die Straße und vor die Rathäuser. Die
größten Versammlungen fanden in Constanza am Schwarzen Meer mit 7.000
Beschäftigten, Bukarest und Arad mit jeweils 5.000 KollegInnen statt. Am 12.
März 2005 nahmen landesweit geschätzte 30.000 ArbeiterInnen an den Kundgebungen
teil.
Das von der konservativ-liberalen Regierung beschlossene neue Arbeitsgesetz
sieht unter anderem die jederzeitige Kündigung von Beschäftigten vor. Die
Kündigung muss nicht begründet werden. Befristete Arbeitsverträge können
abgeschlossen werden, und Unternehmer können spontan Überstunden verlangen. Eine
Einwilligung der ArbeiterInnen ist nicht notwendig. Die wöchentliche Arbeitszeit
wurde auf 48-Stunden ausgeweitet. Die Proteste konnten die Einführung dieses
Gesetzes nicht verhindern.
Gut organisierte ArbeiterInnen finden sich im Transportsektor, bei der Eisenbahn
und der Post. Die Eisenbahner streikten 2005 über mehrere Wochen für einen neuen
Tarifvertrag (der alte lief aus), der entgegen den „Neuerungen“ des Codul Muncii
u.a. Urlaubsgeld und Tariflöhne enthalten sollte. Der Streik endete mit dem
Abschluss eines kurzzeitig laufenden Tarifvertrags. Der Aufruf zum Generalstreik
der Eisenbahner wurde in vielen Städten befolgt. Der letzte große landesweite
Streik war Ende letzten Jahres der der ProfessorInnen und LehrerInnen an den
Universitäten und Schulen. Ihre Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf
welcher auch vielerorts befolgt wurde. Ziel war eine 18%ige Lohnerhöhung und
mehr freie Tage. Der Kampf endete mit einer Verbesserung der Höhe der Einkommen.
Die Gewerkschaften
Die Mitgliederzahl der fünf großen Gewerkschaften ist rückläufig. Vereinte jede
dieser Organisation noch bis vor wenigen Jahren jeweils um die 1 Million
Mitglieder, hat sich dies geändert. Größte Gewerkschaft ist die
CNSLR-Bruderschaft (Confederatia Nationala a Sindicatelor Libere din Romania –
Fratia) mit 800.000 Mitgliedern. Sie ist in manchen Regionen und Branchen
durchaus kämpferisch und stammt aus der alten kommunistischen
Staatsgewerkschaft. Der „Blocul National Sindical“ (BNS) vereint etwa 400.000
Mitglieder, genauso wie CNS „Cartel Alfa“ (Confederatia Nationala Sindicala).
Vertreter von „Cartel Alfa“ nahmen an den Weltsozialforen teil und sind
bestrebt, zusammen mit anderen Gewerkschaften einen neuen internationalen
Gewerkschaftsverband, die „International Trade Union Confederation“ im November
2006 in Wien zu gründen. Dieser hat die Überwindung der Ausbeutung zum Ziel und
erklärt sich als anti-kapitalistisch. Er wird von vielen afrikanischen
Gewerkschaften getragen. Interessant ist auch die vierte im Bunde, die „Confederatia
Sindicale Nationala – Meridian“ (CSN-Meridian). In ihr sind viele Minenarbeiter
organisiert sowie Beschäftigte in der Kautschukindustrie. Ihr gehören etwa
170.000 Mitglieder an. Sie ist auch die einzige Gewerkschaft, die beständig die
Freilassung und Begnadigung des ehemaligen „Arbeiterführers“ Miron Cozma
fordert, der während der „Mineriade“ im Juni 1990 mit tausenden Bergarbeitern
nach Bukarest marschierte und dort die Opposition gegen die erste
„demokratische“ Regierung – die in Wirklichkeit aus politischen Profiteuren des
Sturzes des Diktators bestand - massiv mit körperlicher Gewalt niederschlug und
einschüchterte. Cozma ist eine tragische Gestalt, er ist das Bauernopfer im
Interesse der politischen Machtgruppen. CSN-Meridian ist neben dieser
ungebrochenen Solidarität auch die Gewerkschaft die sich am deutlichsten auf die
Geschichte der internationalen und rumänischen Arbeiter- und
Gewerkschaftsbewegung bezieht. So betrachtet sie Pierre-Joseph Proudhon als
einen der Wegbereiter der organisierten Arbeiterbewegung. Ganz anders als die
Confederatia Sindicatelor Democratice din Romania, die CSDR. Ihr letzter
populärer Vorsitzender Victor Ciorbea wurde später Vorsitzender der
christdemokratischen Bauernpartei.
Allen Gewerkschaften ist zu eigen, das – wie beinahe in allen Bereichen der
Politik Rumäniens – Haltungen je nach Interesse verändert werden. Ist es in der
Politik schon üblich, die Parteizugehörigkeit nach der Windrichtung zu ändern,
so finden sich auch in der Gewerkschaftslandschaft krasse Gegensätze. Gerade die
betont kämpferische CSN-Meridian hat sich so die Herausgabe von Broschüren von
der Nationalbank und der Commerzbank sponsern lassen.
Anarcho-Syndikalismus und Anarchismus
Rumänien ist eines der Länder ohne ausgeprägte anarcho-syndikalistische
Tradition. Dass es auch hier anarcho-syndikalistische Ortsföderationen gab, ist
nahezu unbekannt. Ihre Geschichte ist geprägt von blutiger Unterdrückung, Folter
und Mord. Nachweislich existierten Gruppen von AnarchosyndikalistInnen in Arad
und Cernowitz (heute Ukraine). Diese bestanden auch aus Angehörigen der
deutschen Minderheit Rumäniens und hielten Kontakt zur deutschen FAUD. In
verschiedenen Orten existierten anarchistische Gruppen, die zum Teil Zeitungen
und weitere Informationen herausgaben. Der aus Iasi stammende Anarchist Eugen
Relgis (1895-1987) war Mitherausgeber der anarchistischen Zeitungen „Cugetul
Liber“ (Freier Gedanke) und „Umanitarrismul“ (Humanismus). Die erstarkende
faschistische Bewegung und die ohnehin repressive, reaktionäre Regierung zwangen
ihn schließlich zur Flucht nach Uruguay. Er gilt als einer der bedeutendsten
Vertreter des gewaltfreien Anarchismus. Einige Jahrzehnte vor ihm finden sich
Spuren des Anarchisten Zamfir C. Arbure (1848–1933). Arbure, dessen Pseudonym
Ralli war, war aktives Mitglied der Jura-Föderation und mit Bakunin, Kropotkin
und Malatesta persönlich bekannt. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge, gab
Zeitungen und Bücher heraus, auch in Rumänien. Seine Tochter, Ecaterina
(1873-1937) war ebenfalls eine aktive und bekannte Kämpferin, die sich
Schwerpunktmäßig für eine verbesserte Gesundheitsfürsorge für die ArbeiterInnen
einsetzte. Der revolutionäre italienische Anarchist Errico Malatesta überlegte
nach Auskunft des anarchistischen Historikers Max Nettlau gegen 1880 sich in
Braila niederzulassen, und dort an den Anfängen der organisierten
anarchistischen Bewegung Rumäniens teilzunehmen.
Heute gibt es keine anarcho-syndikalistische Bewegung, auch keine bekannten
Ansätze für diese im Land. In wenigen Städten wie Timisoara, Craiova, Cluj,
Bukarest und Iasi gibt es anarchistische Gruppen, die mit eigenen
Veröffentlichungen und Demonstrationen an die Öffentlichkeit treten. Dabei sind
die Übergänge zur Punk-Szene fließend. Vielerorts sind sie polizeilicher
Repression ausgesetzt.
Ein Ausblick
Wie überall ist es der falsche Weg, sich von der Masse der Bevölkerung zu
isolieren. Der Anarcho-Syndikalismus oder revolutionäre Syndikalismus wird da
eine Chance entwickeln können, wo er Mißstände konkret angeht und Alternativen
aufzeigt. Im sozialen wie auch im Bereich der Selbstversorgung. Trotz einer
großen, historisch begründeten Abneigung gegen kollektives Handeln existieren
vielerorts Produktions- und Konsum-Kooperativen. Kämpferische Kollegen und
Branchen aus allen Gewerkschaften können für den Syndikalismus interessiert
werden. Dabei kann der Syndikalismus von seiner Vielzahl konkreter Erfahrungen
zehren und interessant werden. Genauso, wie durch seine verbindliche
internationale Solidarität.
Der Feinde sind viele in Rumänien, sie sind bestens organisiert und werden auch
von einer Vielzahl deutscher „Experten“ beraten. Gegen jeden Streik machen die
Medien mobil, der Nationalismus wird gepredigt, Frauen zu Sexobjekten und auf
eine Mutterrolle reduziert.
Der Weg der Befreiung in Rumänien ist ein langer und extrem steiniger. Viele
Probleme müssen angegangen werden. Das eigene Leben kann schneller in Gefahr
geraten als in anderen europäischen Ländern. „Bis zur Revolution wird es länger
als ein Menschenleben dauern“ sagte mir heute eine Freundin. Und: „Wir werden
unser bestes geben.“
M.V.
Aus: Direkte Aktion Nr. 177/2006
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