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F.A. Ridley
Die Zeit totalitärer Ideen
Unser heutiges Zeitalter, ungleich der Viktorianischen Aera, die ihm vorausging,
ist vorwiegend eine Epoche totalitärer Vorstellungen, die eine Uniformierung auf
allen Gebieten des sozialen Lebens anstreben. Der soziologische "Atomismus" des
liberalen und liberal-sozialistischen Zeitalters, das einen hohen Grad
individualistischer Auffassungen gestaltete
und Männern und Frauen erlaubte, in verschiedenen Sphären ihres Daseins
besonderen und häufig unvereinbaren Ideen zu huldigen, geht augenscheinlich
seinem Ende entgegen.
An seine Stelle hat sich, wie es scheinen möchte, eine Periode sozialer
Zusammenschlüsse aufgetan, die manche Ähnlichkeit mit dem ebenfalls totalitären
Hohen Mittelalter, d.h. mit der Zeit vom Jahre 1.000 bis 1.300 aufweist.
Die mächtigsten und am deutlichsten erkennbaren Ideologien unserer Zeit wie der
Faschismus, das Nazitum, der Katholizismus und vor allem der Bolschewismus, wie
feindlich sie sich immer gegenüberstehen in der Frage, welche von ihnen die
herrschende sein soll, stimmen jedoch alle überein, daß einmal eine solche
Ideologie erdacht, die Menschheit verpflichtet sei, ihr bedingungslos, jede
Erwägung des eigenen Denkens, jeden Willen, ja, sogar alle moralischen Begriffe
zu opfern, sobald sie mit der Allmacht ihrer dogmatischen Glaubenssätze in
Konflikt geraten. Gegen diese fast alles
durchdringenden Einflüsse totalitärer Gedankengänge erhebt heute der letzte Rest
des Viktorianischen Liberalismus seine warnende Stimme und dieser Protest findet
eine noch tiefer schürfende und kräftigere Unterstützung in den Anschauungen der
alten und stets neuen freiheitlichen Bewegung, deren Standpunkt man am besten
als einen von seinem traditionellen
kapitalistischen Hintergrund losgelösten und zu einer individualistischen
Philosophie verdichteten Liberalismus bezeichnen könnte.
Seit den Tagen von William Godwin' s "Political Justice" (1793) und über die
Werke so großer Denker wie Stirner, Proudhon, Bakunin und Kropotkin hat die
freiheitliche Philosophie ununterbrochen "die Beherrschung des Menschen
durch den Menschen" bekämpft und jeden Kultus, besonders den Kultus des Kirchen-
Gottestums und des Gottes Staat in die Schranken gefordert.
Die letzte und vielleicht die umfassendste und mit außergewöhnlichen Kenntnissen
abgefasste Darstellung freiheitlicher Philosophie ist Rudolf Rockers Werk
"Nationalismus und Kultur", das am Vorabend des zweiten Weltkrieges in Amerika
erschienen ist, und von dem nun auch eine Ausgabe in diesem Lande (England)
vorliegt.
Auf dem Umschlag des Buches befinden sich eine Anzahl lebender Besprechungen von
so berühmten Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Bertrand Russell, Lewis
Mumford und Herbert Read, die man am einfachsten als die Vertreter der
individualistischen Überlieferung bezeichnen könnte. Doch sogar das Lob so
bedeutender Männer ist in diesem Falle überflüssig.
Wie immer man den besonderen Standpunkt des Verfassers beurteilen mag so bleibt
es unbestreitbar, daß Rudolf Rockers Buch eines der wenigen großen Werke ist,
die das 20. Jahrhundert bisher hervorgebracht hat, eines der
wenigen über soziale Philosophie, das in den laufenden Jahrhunderten seinen
Platz behaupten wird.
Denn in diesem umfangreichen Band von über 200.000 Worten wird die gesamte
antiautoritäre und antistaatliche Philosophie mit lichtvoller Beredsamkeit und
geradezu erstaunlichen Kenntnissen entwickelt. Der gelehrte Autor nimmt
sein Material aus allen Perioden der Geschichte und der reichen Literatur der
verschiedensten Epochen, und ich zweifle, ob die wesentliche freiheitliche
Philosophie jemals glänzender und mit mehr universaler Gelehrsamkeit zur
Darstellung gelangte.
"Nationalismus und Kultur" ist nicht jedermanns Buch, nicht seines hohen Preises
halber, sondern vornehmlich seines allseitigen und häufig sehr spezialisierten
Ideenreichtums wegen. Für den Studenten aber, der sich ernstlich mit dem Studium
vergangener Geschichte oder mit den verschiedenen soziologischen Richtungen
unserer Zeit beschäftigt, ist das Werk absolut einzig und unentbehrlich.
Wir wiederholen: Rudolf Rockers Meisterwerk gehört der Weltliteratur an und ist
eines der wenigen großen Bücher unserer Zeit.
Aus: "Die freie Gesellschaft", Nr. 29/1952
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