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Heinrich Reuß
Kampforganisation oder Sekte?
„Es ist keineswegs die Lust an strittigen Auseinandersetzungen oder die Absicht,
unnötigerweise die Gemüter zu erregen, wenn hier diese Frage aufgeworfen und
behandelt wird; sondern (nicht nur der Schreiber vertritt diesen Standpunkt) es
ist dies als eine fundamentale Notwendigkeit von Seiten großer Teile der
Arbeiterschaft selbst längst erkannt worden. Längst schon wünschten weitere
Kreise eine Klärung dieser Frage und vorweg sei es gesagt, daß es die Besten der
in den rheinisch-westfälischen Betrieben tätigen Kameraden sind, welche diese
Angelegenheit behandelt und im Sinne der aktiven Kampfesorganisation erledigt
wissen wollen. Wenn hier Dinge berührt werden, über die bis heute innerhalb der
FAUD keine einheitliche Auffassung vorhanden ist, so wäre es immerhin falsch,
jetzt, wo an diese Dinge herangegangen wird, von einer Opposition zu reden. So
falsch dies an sich schon ist, so verderblich wäre es, wollten wir, hier nach
Vogel-Strauß-Manier den Kopf in den Sand stecken. Dieser Taktik haben wir lange
genug gehuldigt und der Ertrag solchen Tuns offenbart sich am deutlichsten in
den Mitgliederzahlen.
Unzweifelhaft sind auch heute noch 90 Prozent unserer Mitglieder als
Gewerkschaftler der Organisation beigetreten, und der internationale
Syndikalismus hat nie etwas anderes als eine revolutionäre Gewerkschaft sein
wollen. Er hat als seine vornehmste Aufgabe die Erfassung des schaffenden Volkes
zu großen wirtschaftlichen Vereinigungen betrachtet. Und die Macht des
Syndikalismus beruht und wurzelt gerade in der Propagierung seiner Ideen
innerhalb der Betriebe. Aus diesem Grunde wird von einer syndikalistischen
Bewegung nur so lange geredet werden können, so lange sie innerhalb der Betriebe
noch die Möglichkeit einer direkten Betätigung hat.
Hier ist zu konstatieren, daß gerade der revolutionäre Wind der Jahre 1919 und
1920 unserer Propaganda innerhalb der Betriebe von besonderem Vorteil war. Die
Arbeiterschaft hatte innerhalb der Betriebe die größtmöglichste
Betätigungsmöglichkeit, sie hatte nicht notwendig vor jedem Eseltreiber auf der
Hut zu sein. Der Entlassungsschein konnte ohne Einwilligung der Arbeiterräte
nicht ausgestellt werden.
Wenn heute unser Einfluß auf die Arbeiterschaft nicht mehr derselbe ist als in
jener Zeit, so tragen daran diejenigen schuld, die glaubten, durch Resolutionen,
Anträge und Versammlungsbeschlüsse revolutionäre Idealmenschen fabrizieren zu
können. Was wir heute bei Betrachtung unserer Organisation sehen, das ist die
Frucht der Saat derer, welche in Versammlungen beschlossen, daß, wer sich an
Betriebsratswahlen, Knappschaftswahlen, Rechtsschutz usw. beteilige, kein
Syndikalist sei. Wenn solche Methoden den gewünschten Erfolg auch dann noch
nicht brachten, dann schaffte man gleich Buch und Beitrag ab und trug als
Abzeichen seiner eigenen revolutionären Intelligenz das Haar möglichst lang.
Auch diejenigen, welche die Behandlung des Geburtenproblems einer Stellungnahme
zum Kongreß der Amsterdamer vorzogen, müssen genannt werden, ebenso sei derer
gedacht, die in persönlichem Haß nicht Halt machten vor der Person und die
Person mit der Sache verquickten oder verwechselten. Es war eine schlimme Zeit
und die Wirkung solcher Treibereien mußte um so verheerender sein, da zu
gleicher Zeit der Rubel sowohl als der Heimatdienst gegen uns wüteten. Wenn auch
nicht alle Ungeschorenen im Dienste des Rubels standen, so haben sie ihm doch
unbewußt in die Hand gearbeitet.
Heute ist diese Pest glücklich überwunden, aber unter den Nachwehen haben wir
dennoch zu leiden. Leider ist von diesem ‚Geist’ noch mehr wie zuviel
zurückgeblieben und übt seinen verderblichen Einfluß noch weiterhin aus. Wäre
dies nicht der Fall, so hätte diese Frage nicht berührt werden brauchen.
Darüber, daß Hunger, Elend und Entbehrung keine Schrittmacher der Revolution
sind, dürfte heute Einmütigkeit bestehen. Logischerweise muß man sich sodann
auch zur gewerkschaftlichen Gegenwartsarbeit bekennen.
Wer mit dem Wesen der Arbeit innerhalb der Schwerindustrie vertraut ist, wer
sich keine Illusionen über den praktischen Bildungsgrad unserer Arbeitskameraden
hingibt, wer die Überwachungsmethoden in den Betrieben kennt, die Antreiberein
und Angeberei, wer das Riesennetz der gesetzlichen und tariflichen Umschreibung
des Arbeitsverhältnisses kennt, der wird, das sei hier besonders hervorgehoben,
mit mir der Meinung sein müssen, daß eine Kritik daran alleine nicht genügt.
Hier muß vielmehr tatkräftig zugefaßt werden.
Wie dies mit einiger Aussicht auf Erfolg vor sich zu gehen hat, sei hier ohne
jede Umschreibung getan.
Meines Erachtens haben wir uns an den kommenden Betriebsratswahlen unbedingt zu
beteiligen. Betrachten wir zunächst die prinzipielle Seite. Hier ist
festzustellen, daß der Anarchosyndikalismus es ablehnt, sich an gesetzgebundenen
Körperschaften zu beteiligen. Ist der Betriebsrat eine gesetzgebende
Körperschaft? Nein, das ist er nicht. Er ist nichts anderes als der alte
vorrevolutionäre Arbeiterausschuß, den man zur Unschädlichmachung der
revolutionären Räteidee gesetzlich sanktionierte. Schon allein darin, daß die
Arbeiterschaft diese Ausschüsse sich selbst geschaffen hatte, liegt der beste
Beweis für die Notwendigkeit einer Betriebsvertretung.
Von allen Sophistereien kann Abstand genommen werden. Hier ist ein Teil der
Sklavenkette, die auch wir zu schleppen haben, ob wir wollen oder nicht. Der
Polyp ‚Staat’ hat seine Autoritätsfänge eben in alle Dinge des Lebens gesteckt,
von der Wiege bis zum Grab – selbst der Weg zum Friedhof ist vorgeschrieben –
daß es ein Ding der Unmöglichkeiten ist, mit ihnen nicht in Berührung zu kommen.
Ihnen entrinnt man auch dann nicht, wenn man sich noch so weit davon entfernt
glaubt. Nein, in gar vielen Fällen und in dem hier besprochenen ganz besonders,
sitzen wir selbst in diesen Fängen um so fester, je weiter wir davon abrücken.
Beweis: diese Autorität kann nur auf Grund der Massenduldung bestehen. Wir haben
jedoch durch unser Abseitsstehen uns der Arbeiterschaft allzu sehr entfremdet,
wir haben die Arbeiterschaft durch unsere Abstinenz den Fängen der
Gewerkschaften, d.h. der Autorität überliefern helfen, wir haben damit die
Kräfte, die wir vernichten wollten, nur noch mehr gestärkt. Wir werden, wenn wir
uns nicht zurückfinden sollten zur praktischen Arbeit, in Zukunft auch noch aus
den offiziellen Belegschaftsversammlungen ausgeschaltet werden. Es sind bereits
Vereinbarungen getroffen, daß in Belegschaftsversammlungen nur noch
Organisationsvertreter zugelassen werden sollen, welche auch im Betriebsrat
vertreten sind. Wird dies zur Tatsache, dann stehen wir auch hier glatt draußen,
und alle Entrüstung über Vergewaltigung, Terror usw. ändert daran nichts mehr.
Es erübrigt sich wohl, hier noch weitere Argumente anzuführen, denn, wem nicht
zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen. Es sei zum Schluß nur noch denen,
welche nun unentwegt schon Jahre hindurch jede Beteiligung an den Wahlen zum
Betriebsrat, zur Knappschaft usw. abgelehnt haben, anheimgestellt, die Erfolge
ihrer Praxis zu prüfen. Sie werden im Resultat dieser Prüfung den besten
Wertmesser für ihre Praxis haben.
Wir können und dürfen uns nicht isolieren, gerade wir können von einer
chinesischen Mauer am wenigsten Gebrauch machen, denn Syndikalismus ohne die
Betriebe, ohne Einfluß und Mitwirkung der Masse ist, wenn auch eine glänzende,
so doch nur eine Utopie. Was sind und nutzen alle schöngeistigen Betrachtungen,
was sind alle philosophischen Betrachtungen angehender und gewesener Größen ohne
die Tat, ohne den Massenwillen. Hirne und Herzen mit Wissen und Rebellengeist zu
erfüllen, ist sicher auch unser Ziel. Meines Wissens hat sich noch keiner meiner
Gesinnungsfreunde damit begnügt, die Beiträge einzukassieren, um dann Gottes
Wasser über Gottes Land laufen zu lassen, sondern wir dürfen ohne Überhöhung von
uns behaupten, daß, je größer und schwieriger die Kämpfe waren, daß um so größer
unsere Lust am Leben war.
Jegliches Orakeln über die soziale Revolution wird zum Weibergewäsch, wenn wir
nicht alle Kräfte anspannen, um die Keimzellen der neuen Gemeinschaft heute
schon zu entwickeln. Und unsere Föderationen sind, sollen zumindest diese
Keimzellen vorstellen. Somit bedeutet jede Stärkung der Föderationen einen
weiteren Baustein zur neuen Gemeinschaft.
Wer die Masse gewinnen will, wer ihre Gedankengänge befruchten will, wird sich
schon zu ihr bemühen müssen. Vom Kirchturm aus wird es ihm schwerlich gelingen.
Wem jedoch angst ist, daß die syndikalistische Idee durch die Berührung mit
scheinbar staatlichen Einrichtungen in Gefahr geraten könnte, dem ist die
lebendige Kraft dieser Idee selbst noch fremd. Man ist versucht, zu sagen,
dieser Mann will etwas beschützen, dessen Wesen ihm nicht vertraut ist.
Der Syndikalismus hat seinen besten Schutz in sich selbst, er benötigt keinen
Gralswächter: er braucht Ellenbogenfreiheit, keine chinesische Mauer. Er selbst
ist etwas Lebendes, und Tageskampf ist sein Element. Zu unserm eigenen Schaden
sind wir viel zu lange um die Sache herum statt an die Sache herangegangen. Das
Jahr 1925 muß uns wiederfinden als die frohen Kampfgenossen, die wir 1919 und
1920 waren. Wenn auch heute die Verhältnisse ungleich schwieriger sind als in
jenen Jahren, so muß dennoch alles und allem zum Trotz der Syndikalismus in
seinen Mutterboden – und das sind die Betriebe – hineingetragen werden. Hierin
liegt der Schwerpunkt der Betätigung syndikalistischer Betriebsräte. Sie stehen
nicht nur unter der Kontrolle der Organisation, sondern hinter ihnen steht sie
ebenfalls. Wird es wieder so gehandhabt, dann ist eine der wichtigsten
Vorbedingungen für ein Erstarken der Organisation erfüllt. Dann werden wir
wiederum nicht nur zahlenmäßig in Erscheinung treten, sondern unser ideeller
Einfluß auf die Gesamtarbeiterschaft wird wieder hergestellt. Tun wir es
wiederum mit der alten Freudigkeit, begleitet von den Versen Robert Reitzels:
Ich lob mir leichte, lustige Gesellen, die gerne sind, wo volle Becher winken,
und gern der Schönheit an den Busen sinken. Doch die auch, wenn zum Kampf die
Hörner gellen, begreifen dieser Zeit gewaltiges Ringen, der Freiheit ihre
Schlachten helfen schlagen und köstlich Herzblut ihr zum Opfer bringen.“
Aus: „Der Syndikalist“, Nr. 3/1925, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.):
Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006
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