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Fernand Pelloutier:
Der Anarchismus und die Gewerkschaften (1895)
Ich kenne viele Arbeiter, die zwar vom parlamentarischen Sozialismus enttäuscht
sind, die aber noch zögern, sich zum libertären Sozialismus zu bekennen, da
ihrer Meinung nach die ganze Anarchie im individuellen Gebrauch von Sprengstoff
besteht. Ich kenne aber auch zahlreiche Anarchisten, die sich, übrigens auf
Grund eines alten Vorurteils, von den Gewerkschaften fernhalten und sie sogar
bekämpfen, weil diese Organisationen eine Zeitlang wahre Brutstätten zukünftiger
Deputierter gewesen sind. In Saint-Etienne (das weiß ich aus sicherer Quelle)
verehren die Mitglieder der Gewerkschaften beispielsweise Ravachol. Aber keiner
von ihnen würde es wagen, sich als Anarchist zu bezeichnen, da er den Eindruck
zu erwecken fürchtet, als ob er die Vorbereitung des kollektiven Aufstandes
zugunsten der individuellen Revolte aufgegeben habe. In Paris, Amiens,
Marseille, Roanne und hundert weiteren Städten dagegen bewundern die Anarchisten
den neuen Geist, der seit zwei Jahren in den Gewerkschaften Einzug gehalten hat.
Dennoch wagen sie es nicht, dieses revolutionäre Feld zu betreten, um die dort
von den harten Erfahrungen ausgesäte gute Saat aufkeimen zu lassen. Gleichzeitig
aber trennt Mißtrauen die Gewerkschaftsmitglieder von den Anarchisten, die doch
fast alle in gleicher Weise aufgeklärt und geistig auf Grund eines gemeinsamen
Zieles und der Einsicht - bei den einen noch vage Vorstellung, bei den anderen
bereits Überzeugung - in die Notwendigkeit eines Gewaltaktes miteinander
verbunden sind. Die Gewerkschaftsmitglieder nämlich glauben, daß die Anarchisten
systematisch jede Gemeinschaftsaktion ablehnen, während die Anarchisten von
einem Zusammenschluß nichts wissen wollen, von dem sie meinen, daß er zur
Veräußerung der individuellen Freiheit führen müsse.
Indessen schreitet die Annäherung, die in einigen großen Industrie- und
Gewerbezentren begonnen hat weiter fort. Ein Genosse aus Roanne hat den Lesern
von Les Temps Nouveaux neulich mitgeteilt, daß die Anarchisten in dieser Stadt
nicht nur den korporativen Organisationen beigetreten sind, sondern daß sie dank
ihres Einsatzes und ihres Bekehrungseifers auch eine moralische Autorität
gewonnen haben, die sich auf die Propaganda äußerst günstig auswirkt. Diese
Angaben über die Gewerkschaften von Roainne könnte ich für viele Gewerkschaften
in Algier, Toulouse, Paris, Beauvais, Toulon usf. bestätigen, die sich heute
unter dem Eindruck der anarchistischen Propaganda mit dem Studium der
politischen Theorien befassen, von denen sie gestern, als sie noch unter dem
Einfluß des Marxismus standen, nicht einmal reden hören wollten. Nun nach den
Ursachen dieser früher für unmöglich gehaltenen Annäherung zu fragen und die
einzelnen Phasen, die diese durchlaufen hat, zu erforschen, bedeutet, das
restliche Mißtrauen zu beseitigen, das dem revolutionären Bündnis im Wege steht,
und den Staatssozialismus zu vernichten, der zur doktrinären Form nicht
eingestandener [Macht-] Gelüste geworden ist.
Es hat einen Zeitpunkt gegeben, an dem die Gewerkschaften bereit waren, auf jede
Beteiligung an der sogenannten Sozialgesetzgebung zu verzichten (und, was eine
sichere Gewähr gegen alle Reaktionen ist, sie waren dazu auf Grund ihres eigenen
Urteils bereit, trotz der Ratschläge, denen sie, bis dahin mit soviel Respekt
gefolgt waren). Dieser Augenblick fiel mit der Verwirklichung der ersten
Reformen zusammen, von denen man ihnen seit fünfzehn Jahren so viele Wunder
versprochen hatte. Man hatte ihnen so oft gesagt: „Geduld! Wir werden erreichen,
daß eure Arbeitszeit so geregelt wird, daß ihr über genug
Zeit zum Ausruhen und zur Weiterbildung verfügt, ohne die ihr für immer Sklaven
bleiben würdet.“ Die Erwartung dieser Reform hat sie mehrere Jahre lang
gewissermaßen hypnotisiert und von ihrem revolutionären Ziel abgelenkt. Aber was
stellten sie fest, als man ihnen das Gesetz zum Schutz der Arbeit von Frauen und
Kindern gewährte? Eine proportional zur Verkürzung der Arbeitszeit berechnete
Lohnsenkung für ihre Frauen und Kinder und für sie selbst, Streiks oder
Aussperrungen in Paris, in Amiens, in der Ardèche, eine Erweiterung der
Heimarbeit, Einführung des Sweating Systems -oder findige Kombinationen der
Fabrikherren (Schichtwechsel, Zwischenpausen), die zugleich das Gesetz
unanwendbar machten und die Arbeitsbedingungen noch verschlechterten. Die
Anwendung des Gesetzes vom 2. November 1892 hatte schließlich solche Folgen, daß
Arbeiterinnen und Arbeiter dagegen protestierten und seine Aufhebung forderten.
Wie konnte es zu einem derartigen Mißerfolg kommen? Die Gewerkschaften bemühten
sich sogleich, die Ursachen herauszufinden; aber da ihr Glaube an die
Gesetzgebung noch zu stark war, als daß er ernsthaft hätte erschüttert werden
können, und sie in sozialökonomischen Fragen noch zu unerfahren waren, als daß
sie an andere als die nächstliegenden Gründe gedacht hätten, glaubten sie, daß
die Verkürzung der Arbeitszeit die Lohnsenkung zur Folge gehabt hatte und das
Gesetz folglich erst dann perfekt sei, wenn die Regelung der Arbeitszeit durch
die gesetzliche Regelung der Arbeitslöhne ergänzt würde.
Doch schließlich war die Stunde der Wahrheit gekommen. Den Versprechungen, die
die Stärke des Reformsozialismus ausgemacht hatten, mußte ihre Verwirklichung
folgen, was seinen Ruin bedeutete. Es wurden neue Gesetze erlassen, die darauf
abzielten, den Produzenten besser zu entlohnen oder ihm eine Alterversorgung zu
sichern. Aber da bemerkten die Gewerkschaften (und diese Beobachtung, die für
die ganze sozialistische Evolution entscheidend wurde, machten vor allem die
Frauen), daß die Dinge, deren Herstellung ihnen als Produzenten besser bezahlt
wurde, ihnen als Konsumenten immer teurer verkauft wurden, so dass die Preise
für Brot, Wein, Fleisch, Wohnungen, Möbel, mit einem Wort für alle Dinge, die
lebensnotwendig sind, in gleichem Maße wie die Löhne stiegen. Sie bemerkten
ferner (was auch neulich auf dem Kongreß von Limoges offiziell gesagt wurde),
daß die Renten letzten Endes nichts anderes sind als die Rückerstattung
vorausgegangener Lohnabzüge. Diese praktische Erfahrung, die sich auch die
Internationale zu eigen gemacht hat und die seit dreizehn Jahren selbst in den
kollektivistischen Programmen anerkannt wird, war für die Gewerkschaften sehr
viel bedeutsamer als Proudhons meisterhafte Untersuchung über die Auswirkungen
der Steuern. Zwar überzeugte sie diese Erfahrung noch nicht davon, daß man den
Pauperismus in einem Wirtschaftsstaat, in dem in Wirklichkeit alles auf seine
Förderung abgestimmt ist ebensowenig verringern kann wie man die Ausbreitung
einer Flüssigkeit auf einer ebenen Fläche aufhalten kann. Aber sie legte ihnen
zumindest die wichtige Schlußfolgerung nahe, daß die Sozialgesetzgebung
vielleicht doch nicht das Allheilmittel sei, wie man ihnen immer versichert
hatte.
Diese Lehre hätte aber bei ihnen noch nicht jene rasche Entwicklung ausgelöst,
die wir heute beobachten, wenn sich nicht die sozialistischen Schulen selbst
alle Mühe gegeben hätten, bei ihnen eine ablehnende
Haltung gegenüber der Politik zu wecken. Die Gewerkschaften waren nämlich lange
Zeit der Meinung, daß die Ursache für die Schwäche der sozialistischen Partei
oder besser des Proletariats hauptsächlich oder vielleicht sogar ausschließlich
in der Zwietracht unter den Politikern zu suchen sei. Sobald es einen Zwist
zwischen dem Bürger X und dem Bürger Y gab, zwischen dem „Torquemada en lorgnon“
, der einst von Clovis Hugues und Ferroul gebrandmarkt worden ist, und
irgendeiner Koryphäe des „Verbandes der sozialistischen Drückeberger“, um einen
Ausdruck von Lafargue zu gebrauchen, spalteten sich auch die Gewerkschaften. Und
wenn es darum ging, eine gemeinsame Aktion wie etwa die Demonstration am 1. Mai
durchzuführen, dann liefen ihre Mitglieder in Gruppen von fünf, sechs, zehn
auseinander, die einen hierhin, die anderen dorthin, je nachdem wie ihre
Anführer es befahlen. Das gab ihnen zu denken, und da sie auch hier wieder die
Wirkung für die Ursache hielten, vergeudeten sie unermeßliche Energien bei der
Lösung jenes unlösbaren Problems, nämlich wie die Einheit der Sozialisten
zustande kommen könnte. Niemand, der nicht selbst in Gewerkschaftsorganisationen
mitgewirkt hat, kann sich auch nur eine Vorstellung davon machen, wie
hartnäckig, sie diesem Trugbild nachjagten. Aufrufe, Verhandlungen, Manifeste,
alles, alles wurde versucht, aber vergebens. Im gleichen Augenblick, in dem die
Vereinigung besiegelt schien, in dem die Auseinandersetzungen eher auf Grund von
Übermüdung als von Überzeugung ein Ende nahmen, genügte ein einziges Wort, um
den Funken wieder anzufachen: die Guesdisten, die Blanquisten, die
Intransigenten, die Broussisten erhoben sich wütend, warfen sich gegenseitig
Beleidigungen an den Kopf und machten hier Guesde, dort Vaillant und dort
Brousse zu ihrem Anführer. Der kaum beendete Kampf begann erneut für mehrere
Wochen.
Aber alles auf dieser Welt hat einmal ein Ende. Angesichts ihrer zunehmenden
Schwächung und ihrer erfolglosen Bemühungen, die Politik, die vor allem für den
einzelnen von Interesse ist, mit der Wirtschaft zu verbinden, die von
gesellschaftlichem Interesse ist, begriffen die Gewerkschaften schließlich (und
spät ist besser als gar nicht), daß ihre Spaltung eine tiefere Ursache hatte als
die Gegensätze zwischen den Politikern und das eine wie das andere [ ... ] aus
der Politik herrührte.
Schon ermutigt durch die offenkundige Unwirksamkeit der „sozialen“ Gesetze,
durch die Verrätereien gewisser sozialistischer Abgeordneter (die einen
unterstützten den Großhandel von Bercy, die anderen drehten aus den Fetzen ihrer
nicht unterschriebenen Demissionsgesuche kleine Kugeln, um sie den Wählern kaum
eine Handbreit an der Nase vorbeizuschießen), durch die kläglichen Ergebnisse,
zu denen das Eingreifen der Abgeordneten und Gemeinderäte in die Streiks, vor
allem in den Streik der Omnibusfahrer, geführt hatte, durch die Ablehnung des
Generalstreiks seitens der Presse und durch Leute, deren Politik allein darin
besteht, sich die Möglichkeit zu erhalten, die fünfundzwanzig Franken und die
Schärpe zu bekommen - beschlossen die Gewerkschaften, sich von nun an jeder
politischen Agitation zu enthalten, jede nicht rein ökonomische Erörterung
unbarmherzig aus ihren Schulungsprogrammen zu verbannen und sich ausschließlich
dem Widerstand gegen das Kapital zu widmen. Jüngste Beispiele haben gezeigt, wie
schnell sich die Gewerkschaften umgestellt haben.
Der Lärm, der diesen Umschwung begleitete, drang indessen in die Öffentlichkeit.
Die neue Devise: Keine Politik mehr! wurde in den Betrieben verbreitet. Viele
Gewerkschaftsmitglieder verließen die dem Wahlkult geweihten Kirchen. Die
Gewerkschaften erschienen einigen Anarchisten jetzt genügend vorbereitet, um
ihre Lehre aufzunehmen und zu befruchten, und sie kamen denjenigen zu Hilfe, die
endlich von der Bevormundung durch das Parlament befreit, ihre Aufmerksamkeit
und die ihrer Genossen auf die Beschäftigung mit den ökonomischen Gesetzen
lenkten.
Dieser Eintritt der Anarchisten in die Gewerkschaften hatte erhebliche Folgen.
Zunächst wurde damit der breiten Masse [der Gewerkschaftsmitglieder] die
wirkliche Bedeutung des Anarchismus klar gemacht, einer Lehre, die - wir betonen
es noch einmal - durchaus auf den individuellen Gebrauch von Sprengstoff
verzichten kann, wenn sie irgendwo Fuß fassen will. Und durch den natürlichen
Zusammenhang der Ideen erkannten die Gewerkschaftsmitglieder, was diese
korporative Organisation, von der sie bis dahin nur sehr begrenzte Vorstellungen
gehabt hatten, ist und was sie werden kann.
Niemand glaubt oder hofft daß die kommende Revolution, so gewaltig sie auch sein
mag, den reinen Anarchismus verwirklichen wird. Da die Revolution ausbrechen
wird, bevor die anarchistische Erziehung der Menschen abgeschlossen ist, werden
die Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif genug sein, um ihr Schicksal
völlig selbst zu bestimmen, und die launischen Wünsche werden noch lange Zeit
die Stimme der Vernunft in ihnen ersticken. Wenn wir also (und die Gelegenheit,
dies auszusprechen ist günstig) den vollendeten Kommunismus propagieren, dann
geschieht das nicht in der Gewißheit oder selbst in dem Sinne, daß der
Kommunismus die Gesellschaftsform von morgen sein wird.
Es geschieht vielmehr in der Absicht, die Erziehung der Menschen zu fördern und
sie so vollkommen wie möglich zu gestalten, damit wir, wenn der Tag des
Umsturzes gekommen ist, eine möglichst weitgehende Befreiung erreichen. Aber muß
die Übergangsphase unbedingt oder zwangsläufig das kollektivistische Gefängnis
sein? Kann es nicht eine libertäre Organisation sein, die allein für die Belange
der Produktion und des Konsums zuständig ist und auf alle politischen Organe
verzichtet? Das ist das Problem, das mit Recht seit Jahren viele Gemüter bewegt.
Nun, was ist die Gewerkschaft? Eine Vereinigung, in die man frei eintreten kann
und aus der man auch wieder austreten kann, wenn man will. Sie hat keinen
Vorsitzenden, statt einer Schar von Funktionären nur einen Sekretär und einen
Schatzmeister, die jederzeit abberufen werden können. Sie besteht aus Leuten,
die gleichartige berufliche Interessen studieren und besprechen. Wer sind diese
Leute? Es sind die Produzenten, eben jene Menschen die den ganzen Reichtum eines
Landes erzeugen. Warten sie, bevor sie sich vereinigen, bevor sie sich
verbünden, bevor sie handeln auf die Zustimmung der Gesetze? Nein: Die Legalität
ihrer Vereinigung ist für sie nur ein amüsantes Mittel, um im Schutz der
Regierung Propaganda für die Revolution zu treiben. Und wie viele Mitglieder
gibt es, die nicht. im offiziellen Jahrbuch der Gewerkschaften erscheinen und
dort auch nie erscheinen werden! Bedienen sie sich parlamentarischer Methoden,
wenn sie Beschlüsse fassen? Ebensowenig! Sie diskutieren, und die am häufigsten
vertretene Meinung wird Gesetz ohne Sanktionierung, das deshalb genau
durchgeführt wird, weil es von der Zustimmung des einzelnen abhängig ist -
ausgenommen natürlich die Fälle, in denen es um den Widerstand gegen die
Arbeitgeber geht. Wenn sie schließlich in jeder Sitzung einen Präsidenten, d. h.
einen aus ihrer Mitte wählen, der über den ordnungsgemäßen Verlauf wacht, so ist
das nichts weiter als eine Gewohnheit, denn sobald der Präsident gewählt ist,
sind er und häufig sogar die Funktionen, die seine Genossen ihm übertragen
haben, vollkommen vergessen. Ist die Gewerkschaft, die als Keimzelle der
Arbeitskämpfe gilt, sich von Wahlkämpfen fernhält, den Generalstreik mit all
seinen Konsequenzen fördert und sich auf anarchische Weise verwaltet also
zugleich eine revolutionäre und libertäre Organisation, die dazu in der Lage
sein wird, allein dem verhängnisvollen Einfluß der kollektivistischen Politiker
die Waage zu halten und ihn schließlich zu zerstören?
Nehmen wir einmal an, daß an dem Tag, an dem die Revolution ausbricht, nahezu
alle Produzenten in Gewerkschaften organisiert wären. Gäbe es dann nicht eine
fast libertäre Organisation, bereit, die gegenwärtige Organisation abzulösen,
indem sie alle politische Macht abschaffte, und jede ihrer Teilorganisationen
als Herrin über die Produktionsmittel alle ihre Angelegenheiten selbst, souverän
und nach der freien Entscheidung ihrer Mitglieder, regelte? Wäre das nicht „die
freie Vereinigung freier Produzenten?“
Zweifellos gibt es zahlreiche Einwände: Die föderalistischen Verwaltungsorgane
könnten selbst zu einer Macht werden, geschickte Leute könnten es dahin bringen,
daß sie die Gewerkschaften so manipulieren wie die parlamentarischen Sozialisten
die politischen Bündnisse – doch sind diese Einwände nur teilweise relevant.
Denn die Bundesräte sind, selbst im Sinne der Gewerkschaften, nur eine
Übergangslösung, die der Notwendigkeit entspringt, die Arbeitskämpfe immer
weiter auszudehnen und zu verstärken. Eine erfolgreiche Revolution würde diese
Bundesräte sofort überflüssig machen, und im übrigen werden sie von den
Verbänden, aus denen sie hervorgegangen sind, ständig mit mißtrauischen Blicken
überwacht um zu verhindern, daß sie je zu einer führenden Autorität werden.
Andererseits reduziert die ständige Absetzbarkeit der Funktionäre die Bedeutung
ihres Amtes und ihrer Persönlichkeit erheblich, und manchmal reicht es nicht
einmal aus, daß sie ihre Pflichten erfüllt haben, um das Vertrauen ihrer
Genossen zu behalten. Außerdem befindet sich die korporative Organisation noch
in ihrer Embryonalphase. Sie, die sich kaum von der politischen Tyrannis gelöst
hat, geht noch taumelnd einher und wankt auf dem Wege der Unabhängigkeit wie ein
Kind bei seinen ersten Schritten. Aber wer weiß, wohin der Genuß der Freiheit
sie in zehn Jahren führen wird? Sie dahin zu führen, genau darauf müssen die
libertären Sozialisten all ihre Bemühungen lenken.
„Der Bundesausschuß der Arbeitsbörsen“ , heißt es in einem amtlichen Bericht der
im Bulletin de la Bourse de Narbonne veröffentlicht wurde, „hat die Aufgabe, die
Proletarier aber die Sinnlosigkeit einer Revolution aufzuklären, die sich damit
begnügt, eine Staatsform durch eine andere zu ersetzen, auch wenn es sich um
einen sozialistischen Staat handelte“. Dieser „Ausschuß“, heißt es in einem
anderen Protokoll, das demnächst im Bulletin de la Bourse de Perpignan
erscheinen wird, „muß sich darum bemühen, eine Institution vorzubereiten, die im
Falle einer gesellschaftlichen Umgestaltung das Funktionieren der Wirtschaft
mittels freier Assoziationen sichern und alle politischen Institutionen ersetzen
kann. Da es ihr Ziel ist, jede Autorität, gleich welcher Gestalt, abzuschaffen,
ist sie bestrebt, die Arbeiter dazu zu erziehen, sich von jeder Vormundschaft zu
lösen.“
So sind also einerseits die „Gewerkschaftsmitglieder“ heute in der Lage, die
anarchistischen Theorien zu hören, zu studieren und zu übernehmen, während
andererseits die Anarchisten nicht zu befürchten brauchen, daß sie dadurch, daß
sie sich einer korporativen Bewegung anschließen, ihre Unabhängigkeit aufgeben
müssen. Die ersteren sind bereit, die letzteren zu akzeptieren, und diese können
eine Organisation weiter ausbauen, deren Entscheidungen durch freie Zustimmung
getroffen werden und die nach den Worten von Grave „weder Gesetze noch Statuten,
noch eine Satzung hat, denen sich jeder einzelne beugen müßte, da ihm sonst
irgendeine zuvor festgesetzte Strafe droht“, in der alle die Möglichkeit haben,
jederzeit wieder auszutreten, außer - das wiederhole ich - wenn der Kampf gegen
den Feind begonnen hat; es handelt sich hier also, kurz gesagt, um eine
praktische Schule des Anarchismus.
Die freien Menschen sollen also in die Gewerkschaften eintreten und dort ihre
Ideen verbreiten, damit die Arbeiter, die Produzenten des Reichtums, einsehen,
daß sie ihre Angelegenheiten selbst regeln und, wenn der Tag gekommen ist, nicht
allein die bestehenden politischen Einrichtungen zerstören, sondern jeden
Versuch der Wiedererrichtung von Herrschaft im Keim ersticken sollen. Dann
werden die Autoritären sehen, wie berechtigt ihre Angst, die sich in Verachtung
des „Syndikalismus“ äußerte, und wie oberflächlich ihre eigene Lehre gewesen
ist, die verschwunden war, ehe sie ihre Richtigkeit überhaupt unter Beweis
stellen konnte.
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