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Fritz Oerter
Die „Ewigblinden“
Als Friedrich Schiller, der zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn einer der
größten Revolutionäre war, sich die Hörner abgelaufen hatte, schuf er „Die
Glocke“, das Lieblingsgedicht des Bürgertums, worin neben anderen echt
spießbürgerlichen Sentenzen auch der berühmte Spruch enthalten ist:
„Weh' denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leih'n!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.“
Der gute Schiller, der in seinen „Räubern“, in „Kabale und Liebe“, in der
„Verschwörung des Fiesco“ und „Don Karlos“ mit grimmigster Verbissenheit den
Tyrannen zu Leibe ging, der in diesen Dramen so viel Himmelstürmendes geschaffen
hat, entpuppt sich hier als gut- bürgerlicher Reaktionär.
Wer war es, der Landauer, der Eisner, der Jaures und so viele andere Lichtträger
der Menschheit in neuerer und früherer Zeit niedergeschlagen hat? Der Hass war
es gegen diejenigen, die an die Ewigkeit des Blindseins nicht glaubten, die der
Überzeugung waren, dass diese Blindheit zu heilen ist und die dieserhalb die
Menschen sehend machen wollten.
Es ist nicht so, wie das Bürgertum und die Reaktionäre behaupten, dass die einen
berufen sind, im Lichte der Kultur und als die Herren im Genuss ihrer Güter und
Schätze zu leben, während die andern ewig im Schatten der Knechtschaft und Not
zu leben hätten. Es gibt keine Ewigblinden und uns soll es eine heilige Pflicht
sein, denen, die noch blind sind, die Augen zu öffnen!
Gewiss es ist in jedem Volk ein großer und mächtiger Block von Menschen
vorhanden, die stumpf und träge sind. Sie leben blind und taub in den Tag
hinein, versinken in lauter Kleinlichkeit und Nichtigkeit, schwanken bald hierin
und dorthin und wissen nicht, was sie mit sich selbst anfangen sollen.
Einstweilen sind sie überall da zu finden, wo was los ist, sei es ein
Fussballmatsch, sei es ein Volksfest, sei es das Kino oder sonst irgend eine
Gaudi. Einer wahren Freude sind sie nicht mehr fähig, darum laufen sie überall
dem Vergnügen nach. Sie bilden das, was man mit dem Begriff „Masse“ bezeichnet.
Die Masse ist inaktiv, sie hat weder für das Wirtschaftliche noch für das
Politische einen Sinn, ist unfähig, die Zusammenhänge zu erfassen und lässt sich
treiben, schieben und drängen, wohin niederträchtige Zeitungshetzer und
durchtriebene Demagogen sie haben wollten. Wer die größten Phrasen drischt und
das Maul am weitesten aufzureißen weiß, dem leistet sie Gefolgschaft. Es ist so
süß und bequem, in einem wohligen Dämmerzustande dahinzudösen, woraus man
allerdings durch die klaffende Not sehr häufig unsanft gerissen wird, und der
Mühe des Denkens und Selbstbesinnens enthoben zu sein, da ja die Herren „Führer“
diese Mühe dankenswerterweise übernommen haben.
Die Masse ist an und für sich weder gut noch schlecht, d.h. sie ist für das Gute
unter Umständen ebenso zu haben wie für das Schlechte. Wir müssen bei dieser
Gelegenheit einschalten, was wir unter diesen beiden Gegensätzen verstehen. Als
gut bezeichnen wir alles, was der Begründung einer sozialen Gemeinschaft und
Gerechtigkeit unter den Menschen förderlich ist, und als schlecht das, was die
bestehende Ungerechtigkeit und Ungleichheit bewahren oder gar noch
unerträglicher gestalten möchte. Wie grimmige Geschäftskonkurrenten sind die
Führer des Volkes stets vor die Masse getreten und haben ihr spezielles System
als das beste angepriesen, gleich den wahren Jaköben auf den Jahrmärkten und
haben die „Ware“ der Konkurrenten herabgewürdigt und verlästert. Gleichwie
eifrige zelotische Pfaffen lobte ein jeder seine Kirche als die
alleinseligmachende und verschrie die andere als Ketzer und Verbrecher. Sich zum
Herrn, zum Abgott der Masse zu machen, sie zu persönlichen Zwecken oder zur
Erhöhung des Lebensgenusses privilegierter Klassen auszunützen und auszubeuten,
darum handelte es sich bei den meisten dieser Zeloten und Demagogen. Der Masse
das Licht und die Freiheit zu bringen und sie sehen zu machen, das war die
Absicht solcher Leute nicht. Sie sollten die Ewigblinden bleiben, damit sie, die
Herren- und Führerkaste, besser im Trüben fischen konnte.
Die Masse der Ewigblinden wie einen buntschillernden Kometenschweif hinter sich
herzuziehen, das war ihre Absicht. Sie forderten: Blinde Untertanenpflicht,
blinden Soldatengehorsam, blinde Arbeitsknechtschaft, blinde Parteidisziplin.
Sie wollten die Einser sein und die Massen sollten die Nullen bleiben.
Die „Masse“ ist nicht empfindungslos, sie unterscheidet es ganz gut, ob man sie
streichelt oder mit Ruten züchtigt. Und sie bäumt sich auf, wenn es zu arg wird,
aber flugs erscheinen dann die „berufenen“ Vertreter und Führer und lenken die
Bewegung auf ein totes Geleise. So war es und ist es noch heute. Wer öffnet
ihnen die Augen, wer regt sie zu eigenem Denken an? Wer macht und formt aus der
Masse selbständig denkende und fühlende Persönlichkeiten, wer mahnt ständig und
immer wieder die Masse – nicht zur blinden Gefolgschaft -, sondern zur
Gemeinschaft auf? Und wer predigt unausgesetzt, dass kein Führer, und seines
selbst der uneigennützigste und edelste die Freiheit bringen kann, so nicht die
Menschen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen und es selber schaffen, wenn
nicht wir Syndikalisten es tun?
Das Märchen von den Ewigblinden, es könnte den herrschenden Gewalten taugen,
wenn – es wahr wäre. Es ist aber nicht wahr. Welch ein Furor ward den Massen bei
Beginn des Krieges suggeriert und wie nützte man ihre Blindheit während
desselben aus? Und jetzt, seit der glorreichen Revolution. Wo die Führer für
sich alles, für die Massen gar nichts taten, ist es da etwa anders?
Aber die Suggestion hört da auf, wo die Masse oder Teile der Masse die Augen
aufmachen und mit einem male selber zu denken anfangen, wo sie ihr Schicksal
nicht mehr vertrauensvoll und blindergeben in die Hände von Führern legen,
sondern es selber zu formen beginnen.
Trotz dem Wehefluch, den der zahmgewordene Dichterfürst gegen diejenigen
schleudert, die den „Ewigblinden“ des Lichtes Himmelsfackel Leih' n, werden wir
uns nicht abhalten lassen, den Massen zu sagen:
„Wollt ihr wirklich ewig blind und ewig Nullen bleiben, die nur dann etwas
bedeuten, wenn irgendein Leithammel an der Spitze ist? Titanenkräfte schlummern
in euch, wenn ihr euch auf euch selbst besinnt und in bewusster Solidarität
miteinander verbindet, stürmt und stürzt die Götter, die euch das Licht nicht
gönnen und euch unfrei machten, aber vertauscht die alten Götter nicht mit
neuen, die euch im Anfang das Blaue vom Himmel versprechen und bald euch ebenso
sachgerecht das Fell über die Ohren ziehen wie die anderen! Niemals werdet ihr
frei werden, wenn ihr euch nicht selbst befreit!“
Wir werden mit solchen Sorten nicht mit einem male den großen Haufen überzeugen,
aber gar mancher wird sich von der Masse abkehren, wird ein Selbstdenker, ein
Eigener werden und die Schar jener vergrößern, die wissen was sie wollen. Und
mögen auch alle Zentralisten der Welt, von den Nationalisten angefangen bis zu
den radikalsten Parteisozialisten- und Kommunisten uns verleumden, hetzen und
verfolgen, wie man stets Wahrheits- und Freiheitskünder verfolgt hat, wir werden
uns nicht abhalten lassen, den Menschen die Wahrheit zu sagen und ihnen den Star
zu stechen.
Aus: „Der Syndikalist“, Nr. 4/1921
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