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Martin Veith
Zukunftsperspektiven des Syndikalismus
Der Abbau sozialer Errungenschaften ist in vollem Gang. Umfassende
Gesundheitsversorgung wird in Zukunft ausschließlich das Privileg der
„Besserverdienenden" sein. Der Chef des Technologiekonzerns Infineon, Ulrich
Schuhmacher, fordert die Einführung der 7-Tage-Woche. Mit der Agenda 2010, Hartz
und Rürup wird sich die Republik schneller und gründlicher in Richtung eiskalter
kapitalistischer Anti-Gesellschaft verändern. Es zählen nur noch die Interessen
der Wirtschaft. Der Widerstand dagegen ist noch schwach. Welche Perspektiven für
den revolutionären Syndikalismus können aus dieser Situation entstehen, was hat
er an Alternativen anzubieten?
Trotz der beständigen Hetzwellen gegen die reformistischen und laschen
DGB-Gewerkschaften in den bürgerlichen Medien, die als Angriff auf die
Organisationen der ArbeiterInnen generell begriffen werden müssen und einer
nahezu absoluten Dominanz von Wirtschaftsbossen und Politikern, die für die
Beschneidung und Abschaffung erkämpfter ArbeiterInnenrechte die Trommel
schlagen, bemerke ich in „meinem" Betrieb eine deutliche Bewußtseinsveränderung
der KollegInnen. Zunehmend wird ihnen bewußt, daß sie nur das Arbeitsvieh sind,
das von Bossen, Staat und Regierung beliebig ausgebeutet wird. Die Agenda 2010,
Hartz und das ständige Rumgejammere der Wirtschaftsbosse über längere
Arbeitszeiten und höheres Rentenalter haben die Streikbereitschaft deutlich
steigen lassen. Ganz besonders bei emigrierten KollegInnen, die aus Ländern
gekommen sind, in denen der Streik als taugliches Mittel zur Durchsetzung
eigener Interessen Praxis ist. Natürlich ist diese kurze Zustandsbeschreibung
subjektiv. Ich kann nicht für andere Branchen sprechen. Für den Bereich, den ich
überblicken kann, finde ich, daß dies zutrifft. Ich arbeite in einer Firma, die
im Bereich Müllentsorgung, Gartenarbeiten, Möbeltransporte und Recycling tätig
ist. Also körperliche und „schmutzige" Arbeit, mit all ihren negativen
gesundheitlichen Folgen und der Hochnäsigkeit wohlhabender Kundschaft. Nur am
Rande sei hier erwähnt, daß körperliche Arbeit von der bürgerlichen
Klassengesellschaft als weniger „respektabel" angesehen wird als z.B.
Bürotätigkeiten. Was auch an der viel schlechteren Bezahlung deutlich wird.
Die Bewegung gegen den Sozialabbau mitprägen
In den Kommissionen zu den Sozialabbau-Konzepten der Hartz-Kommission und der
Agenda 2010 bestimmten hochrangige DGB-Funktionäre bei den Beratungen die
Richtung mit. Sie tragen den Sozialabbau damit aktiv mit. Als Glanzleistung
haben sie mit dem Abschluß von Tarifverträgen mit Zeitarbeitsfirmen zur
Legalisierung der Leiharbeit im großen Stil beigetragen. Sie haben Schützenhilfe
für Niedriglohn und Unsicherheit zugunsten der Sklavenhändler geleistet. Sein
Ansehen unter den ArbeiterInnen ist dadurch rapide gesunken. Und das ist gut so.
Es ermöglicht uns, stärker gehört und als Alternative wahrgenommen zu werden,
denn wir sind eine andere Gewerkschaft. Eine revolutionäre, die mit klaren
Zielen von gesellschaftlicher Selbstverwaltung, ArbeiterInnensouveränität,
Gleichberechtigung der Geschlechter, Selbstbestimmung des Menschen und
antirassistisch antritt. Wir haben Ideen und Vorstellungen, die wir unseren
erwerbslosen und erwerbstätigen KollegInnen anbieten können. Unsere
Kampfmethoden sind effektiv. Direkte Aktionen, Streik, Boykott und vor allem die
Solidarität als Lohnabhängige und Ausgebeutete untereinander. Wichtig ist, daß
wir Anarcho-SyndikalistInnen klare Orientierungen geben. In den Bewegungen und
Bündnissen gegen die Hartzkonzepte und den Sozialabbau waren
AnarchosyndikalistInnen von Anfang an aktiv. Aufpassen müssen wir dabei vor den
Möchtegern-Berufspolitikern in den verschiedenen linken Kleinstparteien, die mit
großen Phrasen versuchen werden, sich an die Spitze der kommenden sozialen
Bewegung zu setzen. Hier gilt es, unsere Form der direkten Demokratie bei den
Bündnistreffen zu praktizieren und gegen Angriffe, die auf die Einführung von
Stellvertreterpositionen zielen, durchzusetzen. Genauso muß der dümmlichen
Orientierung auf Forderungen an die DGB-Gewerkschaften entgegengetreten werden.
Der DGB-Apparat steht auf der anderen Seite der Barrikade. Für unsere Interessen
müssen wir schon selber eintreten, wenn wir erfolgreich sein wollen.
Gleichzeitig – wir können das bereits sehen – werden auch viele unabhängige
Gruppen aus der radikalen Linken, die den Klassenkampf für sich entdecket haben,
diese Bewegung mittragen. Das ist zu begrüßen; allerdings dürfen wir dabei nicht
übersehen, daß diese oftmals AktivistInnen mit akademischen Hintergrund sind.
Ihr Interesse am Klassenkampf leitet sich oftmals aus theoretischen und
strategischen Erwägungen ab. Sie wollen wie wir eine soziale Revolution. Nur ihr
Hintergrund dafür ist ein anderer als unserer. Unsere soziale Existenz ist durch
den Kapitalismus beständig bedroht. Wir haben ein elementares, existenzielles
Interesse, ihn zu beseitigen. Und im Anarcho-Syndikalismus eine in der Praxis
geformte und erwiesene Waffe und Strategie zur Verteidigung gegen Angriffe, als
auch zum Aufbau einer neuen, freien, klassenlosen Gesellschaft. Das bedeutet
viel Verantwortung für uns. Denn wir müssen Orientierung geben. Außer uns
verkörpert niemand eine solch deutliche und organisierte Zielvorstellung der
Freiheit und Würde der ausgebeutete Menschen. Andere „revolutionäre" Gruppen
oder Bewegungen wollen selber an die Macht und zu neuen Ausbeutern werden.
Deshalb ist die FAU so wichtig. In ihr liegt der Kern für eine zukünftige
organisierte syndikalistische Bewegung der ArbeiterInnen, die auf Gleichheit und
Selbstorganisation beruht.
Oftmals ist die Situation die, daß AnarchosyndikalistInnen alleine in einem
Betrieb arbeiten. Hier ist die Unterstützung der GenossInnen vor Ort aus den
lokalen Gruppen und Syndikaten notwendig. Der Austausch und die Diskussion über
die Situation in den Betrieben, in denen FAU-Mitglieder arbeiten, muß ständig
sein. Die GenossInnen müssen wissen, was im Betrieb XY passiert, wie die
Stimmung ist, wie die Kräfteverhältnisse liegen, um in vielfältiger Form die
GenossInnen im Betrieb zu unterstützen und eingreifen zu können. Z.B. müssen
viel mehr Informationen über uns, unsere Ziele und unsere Arbeit zu den
KollegInnen in die Betriebe getragen werden. Dazu dient auch die „Direkte
Aktion" als einzige bundesweite anarchosyndikalistische Zeitung, und die stets
aktualisierte Webseite der FAU-IAA. Auch muß mit falschen Vorstellungen
individueller Gegenwehr gebrochen werden. Oft wird das Blaumachen als Gegenwehr
gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen und Vorgesetzte propagiert. Doch
Blaumachen ist nur eine Möglichkeit unter vielen, um Luft zu holen. Und
AnarchosyndikalistInnen, die oft blau machen, bauen keine Betriebsgruppen auf
und gehen der Konfrontation mit Vorgesetzten und Geschäftsleitung oder
DGB-Funktionären aus dem Weg. AnarchosyndikalistInnen sollten mit Beispiel
vorangehen und Widerstand praktizieren. Propagiert werden muß der gemeinsame
Widerstand aller im Betrieb beschäftigten Lohnabhängigen. Denn Syndikalismus ist
Frontkampf. Dabei geht es nicht darum, von heute auf morgen eine Betriebsgruppe
zu schaffen, so wünschenswert das auch ist. Wichtig ist erst mal, daß wir als
KollegInnen respektiert werden und unsere KollegInnen wissen, daß wir zu dem
stehen was wir von uns geben. Gerade jetzt, mit den Regierungs-Angriffen durch
die Agenda 2010 fragen sie uns um unsere Meinung. Und wir sollten alle
gesetzlichen Rechte, die sich Gewerkschaften bieten, nutzen. Wir müssen dazu
übergehen, Betriebsversammlungen einzuberufen, selbstverständlicher im Betrieb
aufzutreten, schwarze Bretter für unsere Gewerkschaftsinformationen nutzen und
unsere Infos auf den Arbeitsstellen verteilen. Dabei müssen wir eine
kontinuierliche Präsenz und Information in Betriebe und auf den Arbeits- und
Sozialämtern entwickeln. Und, wie ich finde, müssen wir auch das „heiße Eisen"
syndikalistischer Betriebsräte anfassen. Die Diskussion über sie sollten wir
stärker an pragmatischen Gegebenheiten ausrichten, als an einer „reinen Lehre".
Denn manchmal wären sie eine Möglichkeit der festen Verankerung
anarcho-syndikalistischer GenossInnen und Positionen im Betrieb. Klare
organisatorische Beschlüsse könnten Befugnisse und Arbeitsweisen
syndikalistischer Betriebsräte regeln. Diese Diskussion wird innerhalb der
internationalen anarcho-syndikalistischen Bewegung seit Jahrzehnten immer wieder
geführt und brachte die unterschiedlichsten Ergebnisse. Wenn SyndikalistInnen
nicht auf DGB-Listen kandidieren wollen und sollen, muß diese Diskussion geführt
werden.
Rückbesinnung auf Klassenkampf und Selbstorganisation
Wir müssen uns auf das Ursprüngliche zurückbesinnen. Den Widerstand, den
Klassenkampf, die Selbstorganisation, den Anspruch, unser Leben gut, würdig und
frei leben zu können. Wir stehen noch am Anfang und müssen in der Lage sein,
unsere KollegInnen, die Menschen unserer Klasse auf allen nur möglichen Wegen zu
erreichen. Dazu gehört auch das Reden in Versammlungen, die Erklärung unserer
Perspektiven, unserer Ziele. Bücher sind gut und Wichtig. Nur meistens fehlt den
KollegInnen die Zeit dazu. Gerade diejenigen, die mehrere Jobs und Kinder unter
einen Hut bringen müssen, haben dazu kaum Gelegenheit. Deswegen ist die freie
Rede und das persönliche Gespräch eine Möglichkeit der Information, wenn wir
dies handhaben ohne aufdringlich zu werden. Das Weitere ist die Schaffung
anarcho-syndikalistischer Zentren, wie etwa in Berlin oder Leipzig, in denen
soziales Leben und Information stattfindet.
Bei all diesen Gedanken zu betrieblicher Arbeit noch ein (leider hier nur
kurzer) Blick auf die Erwerbslosigkeit. Die Kapitalistenverbände fordern
vehement die Verlängerung von Lebensarbeitszeit, Überstundenbereitschaft und
7-Tage Woche. Ihnen geht es nur um den eigenen Profit, den eigenen Wohlstand.
Denn die Millionen Erwerbslosen werden auch als Druckmittel gegen die
Beschäftigten benutzt. Es ist deshalb notwendig, offensiv für
Arbeitszeitverkürzungen einzutreten und Überstunden abzulehnen. So können neue
KollegInnen eingestellt werden. Ähnlich liegt es mit den befristeten
Arbeitsverträgen. Diese müssen in unbefristete umgewandelt werden, um die
existenzielle Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter zu erhöhen. Darüber
hinaus erschweren befristete Arbeitsverträge auch das feste Verankern von
Gewerkschaften im Betrieb. Denn die Menschen sind die Träger von Ideen und
propagieren den Einsatz für unsere Interessen als Lohnabhängige.
Generell muß die Spaltung zwischen erwerbsarbeitenden und erwerbslosen
KollegInnen aufgehoben werden. Und das geht am besten mit der gemeinsamen
Organisation zum gemeinsamen Kampf in der syndikalistischen Gewerkschaft.
Selbstverwaltung der freien Gesellschaft
Armut, Unterdrückung, mangelnde Gesundheitsversorgung und vieles negative
weitere sind Bestandteil kapitalistischer Herrschaft. Diese Herrschaft zu
beenden und ein gleichberechtigtes Leben in Wohlstand und Selbstbestimmung für
alle zu erkämpfen, ist das Ziel des Anarcho-Syndikalismus. Nicht die Wahl einer
Partei oder die Hoffnung auf andere wird uns diesem Ziel näher bringen. Nur
unser eigenes Eintreten, der Aufbau einer großen, kämpfenden und starken
syndikalistischen Bewegung kann dies leisten. Um uns selber müsse wir uns selber
kümmern. Im Hier und Jetzt gilt es, uns die Fähigkeiten anzueignen, die Betriebe
in ArbeiterInnenhände zu übernehmen um sie dann nach der Revolution zu leiten
und damit den Bedarf der Bevölkerung an den unterschiedlichsten Produkten zu
gewährleisten. Und dies beginnt damit, sich über die eigene Situation klar zu
werden, und in der Selbstorganisation in der syndikalistischen Gewerkschaft. Es
geht um unsere menschliche Würde und Freiheit.
Literaturempfehlung:
Martin Veith: Die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft.
Diese Broschüre erklärt Methoden, Ziele und Organisationsformen einer
anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft. Die in ihr organisierten Menschen lehnen
den Zentralismus (z.B. von Parteien und DGB-Gewerkschaften) und die
„sozialpartnerschaftliche" Friedenspflicht zwischen Lohnabhängigen und
Besitzenden grundsätzlich ab. Das gleiche gilt für Führerinnen und Führer,
Bürokratinnen und Bürokraten. Die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft ist ein
Zusammenschluß „von unten" und kämpft auf selbstorganisierter und
gleichberechtigter Grundlage für eine solidarische und selbstverwaltete
Gesellschaft.
Aus: FAU-Bremen (Hrsg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven, Bremen
2005
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