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Louise Michel
„Auf ihr, die ihr die Ketten des Elends tragt“
Die Wahrheit muß aus dem Elend kommen, denn von oben kommen nur Lügen. Die
Leiden und die Schmerzen der Entrechteten und Gesetzlosen sind groß; sie
versuchten, sich zu befreien, aber immer geschah es in der Nacht der
Unwissenheit, so dass sie am Ende verzweifelten und keinen Ausweg wussten.
Kein Vogel baut zum zweiten Male ein Nest unter den Bedingungen, die es beim
ersten Male zerstörten. Das gehetzte Tier hält man kein zweites Mal zum Narren,
wenn es der Falle oder den Hunden entkam. Allein die Menschen ertragen ewig
dieselben Schmerzen. Nur sie scheinen niemals die Bedingungen ändern zu wollen,
die diese Schmerzen hervorrufen.
Wir sind es nicht, die die neue Ordnung schaffen, es sind die Kämpfe, es sind
die jungen Menschen, die sich zu einem Neubeginn mit Gewalt erheben, um die
Unglück bringenden Ungeheuer zu Boden zu schmettern; sie sind nicht mehr Sklaven
der Unwissenheit, ihr Wissen verleiht ihnen Unbesiegbarkeit.
Wissen, wollen, schweigen können, hieß es im alten Ägypten. Die Jungen kennen
unser Ziel: Die Befreiung aller, sie und wir wollen es, und sie werden es wagen.
Was das Schweigen anbelangt, so unterscheiden wir uns vom alten Ägypten; denn so
laut wie nur möglich schreien wir es den Privilegierten ins Gesicht, damit sie
die Ungleichheit in der Gesellschaftsordnung erkennen, die sie mit mehr Rechten
und Pflichten ausstattet. Und den Entrechteten rufen wir zu: Lehnt euch auf!
Ist es nicht ein Verbrechen zu warten, während Millionen unter dem Mühlrad des
Elends wie das Korn zermahlen, wir die Trauben zerquetscht werden ? Aber nur so
kommt die Bourgeoisie zu Brot und Wein. Betrachten wir die Dinge klar und
deutlich: Wer schon einmal brennende Bauernhöfe gesehen hat, der weiß, dass es
unmöglich ist, die wildgewordenen Pferde aus den Ställen zu treiben, sie
bleiben, auch wenn alles über ihnen zusammenbricht: ja, so verhält sich leider
ein großer Teil der Menschen.[...]
Der einzige Unterschied zwischen einem Kaiserreich und einer wie auch immer
genannten Staatsform besteht lediglich in der Anzahl der Staatsmänner; auch
unsere Republik hat tausend Könige. Was würdig wäre, eine Republik genannt zu
werden, wäre die Sache aller – freie Menschen in einer freien Welt.
Unermessliche Schufterei und Elend für das Volk; Überfluß und Vergnügungen für
die Herrschenden; so sind die Verhältnisse weltweit. Den Staatsformen können wir
alle nur erdenklichen Namen geben, im Grunde sind sie fast alle gleich. Dennoch
wären wir im Unrecht, wollten wir nicht anerkennen, dass sich einiges verändert
hat. In dieser Zeit sind mehr Vorurteile abgebaut worden, verschwunden, als in
unserem ganzen bisherigen Leben. Nicht wir haben diese Vorurteile zunichte
gemacht, es waren diejenigen, denen sie bisher nützten; sie überstrapazierten
ihre Privilegien dermaßen, bis die überspannten Saiten rissen und schließlich
auch dem Naivsten die Augen geöffnet wurden. [...]
Kann man noch von einem allgemeinen Wahlrecht sprechen, ohne zu lachen? Die Wahl
ist eine schlechte Waffe, denn die Staatsmacht hält das Zepter in der Hand, und
dem gutgläubigen Wähler bleibt nur die Wahl, entweder vergiftet oder
eingeschläfert zu werden.
Als Atai die Stämme zur Revolte und zum Befreiungskampf gegen die französischen
Eroberer aufrief, wurden sie mit ihren Speeren durch Haubitzen niedergemacht –
die sogenannten Barbaren wurden von den sogenannten Zivilisierten besiegt. Es
war bewundernswert, wie die Kanaken sich mit Wurfspießen, Schleudern und alten
Steingewehren der modernen Artillerie entgegenstellen; aber es war klar, wie der
Kampf enden würde. – Nun gut, Wahlzettel richten nicht mehr aus als Speere gegen
Kanonen.
Bürger, Eure „Wahl“ gleicht einem Gebet zu den tauben Göttern aller Mythologien,
sie gleicht dem Gebrüll des Ochsen, der den Schlachthof wittert. Ziemlich naiv
müsste man sein, um noch darauf zu bauen, mit Wahlen etwas Wesentliches ändern
zu können. – Ist es nicht so, dass Gesetze, die angeblich dem Fortschritt
dienen, in Wirklichkeit das Gegenteil bewirken und den Fortschritt in Ketten
legen ? Wäre es anders, würden es die Regierungen nicht zulassen. Ist es nicht
so, dass die Staatsraison dem Staat zur eigenen Aufrechterhaltung dient ?
Mit der Verfassung, die unsere Vorfahren vor hundert Jahren entwarfen, schufen
sie gleichzeitig ihr Schaffot. Die Despoten haben schnell gemerkt, dass ihre
Gesetze dem Löwen als Käfig dienen, und sie lassen ihn brüllen, solange es ihm
gefällt; die Eisengitter sind stark, die Käfigtür ist wohl verschlossen. Seit
langem schon füllten und leerten sich die Wahlurnen, ohne dass es möglich
gewesen wäre, mit diesen Papierschnipseln, die angeblich den Willen des Volkes
repräsentieren, etwas Grundsätzliches zu ändern. – Der Wille des Volkes ! Das
sogenannte allgemeine Wahlrecht war die letzte Hoffnung derer, die die alte
ausgemergelte Gesellschaft noch einmal zum Leben erwecken wollten, aber es
konnte sie nicht retten, und jetzt liegt sie ausgestreckt auf dem Seziertisch,
verwest zum Kadaver.[...]
Ein einziger Generalstreik könnte dem allen ein Ende bereiten, er ist schon in
Vorbereitung, und er hat keinen Anführer außer dem bloßen Selbsterhaltungstrieb,
und es geht nur noch darum: sich aufzulehnen oder zugrunde zu gehen. Es gibt
keine andere Alternative. Die erste Revolte der Armen, die seit je her gelitten
haben, ähnelte einem Selbstmord; jeden einzelnen Streik könnte man so betrachten
und deshalb muß sich der Streik zum Generalstreik ausweiten. Ist nicht der
Klassenkampf das Mittel unseres Krieges ? Die Lage ist unerträglich, aber ist
der Streik erst begonnen, wird das gesamte Proletariat mitmachen. Diejenigen,
die durch die großen Konzerne ruiniert worden sind, werden immer zahlreicher; zu
ihnen zählen nicht nur die kleinen Händler, sondern auch die Angestellten, sie
alle werden sich dem Generalstreik anschließen; die Massen sind elender dran als
streunende Hunde, aber sie wollen sich nicht daran gewöhnen, ohne Brot und ohne
Dach über dem Kopf zu leben.
Energie, aus Verzweiflung geboren, wird niemals besiegt ![...]
In Deutschland wir der Generalstreik vielleicht Vorbote der sozialen Republik
sein. In England und Belgien ist alles im Aufbruch, hunderttausende von
Streikenden erheben sich, bald werden es mehr sein. Wir begrüßen das neue
Erwachen, begrüßen das Chaos, in das die alten Institutionen gestürzt werden.
Die Kugel, die eine Scheibe zerschmettert, hinterlässt ein sternförmiges Loch;
der Schlag, der dem Despoten versetzt wird, hinterlässt eine ebensolche Spur.
Soziale Umwälzungen gleichen Erdbeben, hinterlassen Trümmer – auf ihnen bauen
wir auf.
„Wenn ihr einig seid, kann euch die ganze Welt nicht besiegen“, sagte
Vercingetorix zu den Galliern. Die Zeit der Gallier ist vorbei, auch die Zeit
Frankreichs wird vergehen, darum, auf, Bauern und Geknechtete, ihr, die ihr die
Ketten des Elends tragt, die schwerer sind als die eisernen Ketten eurer
Vorfahren, es ist der Vorabend der Waffen, lasst uns bereit sein!
Im Sommer steigt aus den weiten Ebenen der Duft des geschnittenen Heus, und es
steigt ein Traum aus den Düften der Felder, der Traum der Freiheit.
Schön wäre die Natur, wäre der Mensch nicht Sklave des Menschen. Schön wäre sie
selbst unter dem Winterschnee, wo sie ruht, erschöpft vom Keimen und Reifen des
Jahres.
Der Arbeiter muß sich ohne Unterlaß mühen, damit sein Bonze nichts zu tun
braucht; er stirbt vor Mühsal, der andere an Überfettung. Bauer, hörst du die
Stimme im Wind ? Es sind die Gesänge deiner Vorfahren, der alten gallischen
Barden: “Fließ, fließe, Blut des Gefangenen, rot, die Erde wird blühen; rot, wie
Eisenkraut, und der Gefangene wird gerächt werden.“
Seit Tausenden von Jahren gehen die Söhne Galliens und der ganzen Erde als
Gefangene des Kapitals zur Schlachtbank, und über ihnen wächst auf den Feldern
das Gras immer höher und dichter. Aber die Befreiung kommt nicht, denn sie
flehen sie herbei, statt sie sich zu nehmen. Niemand hat das Recht, andere zu
knechten; der Mensch, der sich seine Freiheit nimmt, nimmt sich nur das zurück,
was ihm gehört, seinen einzigen wahren Besitz. Wird er bedrohlich, dann
dezimiert man ihn auf dem Schlachtfeld der Kriege. Blind – wie das Rennpferd,
wie der Kampfstier – erträgt der Mensch den Drill, dem er aufgrund einer
Unwissenheit ausgesetzt ist. Und die Lügen der Politiker lullen das Volk ein,
Vampiren gleich, saugen sie uns aus; noch glauben zu viele Hungerleider den
trügerischen Versprechungen. Doch eines Tages – und vielleicht ist dieser Tag
schon nahe – wird aus den Tiefen der Verzweiflung die Revolte entstehen. Niemand
weiß, wodurch sie ausgelöst werden wird; ob durch einen Generalstreik, eine
Katastrophe, den Zusammenbruch der Macht oder durch eine Massenerhebung.
Wir spüren, die Revolte ist nahe, kalt weht sie uns an, Haß und Tod begleiten
sie; Haß auf die Leichenhäuser, Haß auf die Gefängnisse und die Lazarette.
Bauer, willst du nicht endlich die ewige Resignation abschütteln ? Dir, Bauer
ist dieses Lied des Zorns gewidmet; es ist ein Andenken an die Zeit unseres
Kampfes:
Das Lied des Korns
Der Frühling lacht in den grünen Zweigen,
Tief in den Wäldern zwitschert es in den Nestern,
Alles lebt und singt mit schwingenden Flügeln,
Alle Vögel brüten aus ihre Kleinen.
Und das Volk ist arm und darbt;
Hunger und Kälte nagen an den Eingeweiden.
Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer !
Es wäre schön, könnte Jacques Elend lieben –
Aber fern sind Liebe und Licht!
Sie sind nicht für die Elenden!
Überlassen wir die Witwe nicht der Folter,
Überlassen wir den Sohn nicht dem Tyrannen,
Wir wollen nicht Komplizen sein.
Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer!
Schmiede Ketten, baue Festungen,
Gib alles her, Schweiß und Blut, Arbeit und Not.
Die Fabriken erobern die Schlösser.
Sieh, Jacques, wie nachts hinter den Türen.
Wie in einem glühend schwebenden Traum,
das Flimmern der roten Fackeln lodert.
Säe dein Korn, Bauer! Geh dein Korn säen, Bauer!
Laß den Pflug liegen, bis die Erde dir gehört und nicht länger den Aasgeiern,
den Großgrundbesitzern. Es gibt Korn im Überfluß, und du stirbst fast vor
Hunger; iß das Korn, das du gesät hast. Hindere deinen Sohn, Bauer, loszuziehen,
um andere Völker zu vernichten; hindere deine Tochter, für das Vergnügen der
Herren da zu sein. Lehre deine Kinder den Widerstand, damit sie endlich die
soziale, menschliche Gesellschaft erleben. Weigere dich, von deinen letzten
Groschen die Spürhunde, die dich hetzen, zu bezahlen. Verweigere alles, damit es
schneller zum letzten großen Kampf komme.[...]
Nicht die Paläste sollen brennen, sondern die hässlichen und verpesteten Hütten.
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