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Fritz Linow

Das Problem der „wirtschaftlichen Vereinigung“

„Mit dem Zusammenbruch des monarchistischen Militärstaates im November 1918 begann in Deutschland die von der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften so oft und laut geforderte Periode der formalen Demokratie, der man in unserem Lande gern nachsagt, daß ihr Inhalt sozial wäre. Der Parlamentarismus, also das Vertretungssystem ist in seiner augenblicklichen Form der äußere Ausdruck der sogenannten sozialen Demokratie. Er hat nach und nach in allen Zweigen des bürgerlichen Gesellschaftsgetriebes festen Fuß gefaßt. Sein Einfluß wurde durch die Reichsverfassung, welche am 11. August 1919 in Weimar von der Nationalversammlung angenommen wurde, verankert und somit als ‚Grundrecht’ der Nation gesetzlich festgelegt. Dieses Grundrecht, daß jeder Deutsche im öffentlichen Leben und in öffentlichen Körperschaften nach bestem Können mitwirken kann, wurde nicht nur für die schon bestehenden Körperschaften, sondern auch für die noch zu schaffenden Körperschaften des öffentlichen Lebens sozusagen verbrieft. Durch die veränderte wirtschaftliche und politischen Struktur nach dm November 1918 wurde dann die Sozial- und Arbeitsrechtsgesetzgebung eins der wichtigsten Glieder der staatlichen Gesetzgebung. Aber die Sozialgesetzgebung wurde nicht ausgebaut, weil ein Zug der Menschenfreundlichkeit durch die Gesellschaft ging. Auch nicht, weil das soziale Gewissen mächtig schlug, nicht weil soziale Verantwortung kategorisch eine Bekämpfung der Armut des Volkes und des Elends der untersten Schichten erheischte, sondern einfach deshalb, weil die im Schoße der werktätigen Volksmassen geborenen Organe, welche von den neuesten Erkenntnissen der sozialen Wissenschaften befruchtet wurde, ihre Energien in falsche Kanäle leiten sollten.

Diese Umleitung regenerierender Kräfte hat aber nicht nur den Zweck, die Machtkonzentration der Arbeiterschaft zu unterbinden und für die Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise zu neutralisieren, sondern vielmehr die vornehmste Aufgabe darin zu sehen, die umgeleiteten Energien und ihre Kraftquellen den durch Krieg, Revolution und viele andere Ursachen vollständig zerrütteten Körper der bürgerlichen Gesellschaft durch Zuleitung frischen Blutes zu stärken und wieder lebensfähig zu machen.

Die Klasse, welche der heutigen Gesellschaft ihren Charakter aufdrängt, hat die Notwendigkeiten klar erkannt, von denen das Leben und die Entwicklung der gegenwärtigen sozialen Ordnung abhängen. Neue Säfte, die täglich frische Kraft erhalten, braucht diese Ordnung zu ihrem Leben. Unterbindung aller neuen Bestrebungen, die weitab vom alten nach neuen Wegen der sozialen Umwandlung suchen, ist zu ihrem unerläßlichen Daseinszweck geworden. Die schöpferische, schwindende Kraft dieser neuen Bestrebungen braucht die alte Gesellschaft. Jedes sozialen Energieatom, welches nicht erfaßt werden kann, wird für den Kapitalismus zur gesellschaftlichen, zur revolutionären Gefahr. Es ist deshalb gar nicht zu verwundern, wenn die Gesetzgebung des Staates krampfhaft bemüht ist, alle sozialen Bestrebungen durch Gesetze zu erfassen, um die sonst gegen den Klassencharakter der Gesellschaft gerichteten Energien aufzufangen und der alten Ordnung der Dinge zuzuführen. Der Staat schlägt bei der Verfolgung dieser Zeilen die sonderbarsten Wege ein. Er umschmeichelt die eine Organisation mit sozialen Bestrebungen, schafft ihr Vorrechte, um auf diese Weise andere Organisationen niederzuhalten, die ihre Bestrebungen mit anderen Mitteln und Methoden verfolgen. Diese Art der Nutzbarmachung oder Verstopfung sozialer Energiequellen durch den Staat birgt aber für die Organe des Volkes, welche zu der herrschenden Ordnung in Opposition stehen, ungeheure Gefahren.

Besonders den wirtschaftlichen Organen der Arbeiterschaft, den Gewerkschaften mit sozialrevolutionärem Inhalt, droht eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Vergrößert wird diese noch dadurch, daß die hier in Frage stehenden sogenannten Spitzenverbände, also die freien, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, die vom Staat angebotene Vorrechtsstellung nicht nur annehmen, sondern auch bestrebt sind, diese Stellung zu festigen und unangenehme Konkurrenten mit Staatshilfe zu vernichten. Selbstverständlich ist, daß eine solche Vorrechtsstellung sich auf Kostender Taktik und der Prinzipien dieser Verbände entwickelt. Wer den Staat als Organisationsgehilfen benutzt, verpflichtet sich, eine Mitgliedschaft im Sinne der Staatsraison zu beeinflussen. Der Staat gibt sich nur zum Organisationsgehilfen nichtstaatlicher Körperschaften her, wo er erwartet, daß durch seine Gehilfenschaft sein unmittelbarer Einfluß auf die Selbstschutzorgane der werktätigen Volksmassen wächst. Je weiter diese Organe seinen Bestrebungen entgegenkommen, der alten, morschen Wirtschaft und der innerlich faulen Kultur der bürgerlichen Gesellschaft neue Lebenssäfte zuzuführen, um so gewaltiger ist der Einfluß, den der Staat auf ihre innere Verfassung ausübt. Er zwingt diese Organisationen mit Hilfe, der eingeräumten Vorrechtsstellung, sich der Kontrolle des Staates zu unterstellen. Gleichzeitig versucht er mit ihrer Hilfe alle Organe des Volkes zu unterdrücken, die eine Stellung unter seiner Kontrolle ablehnen. Da nun die Gewerkschaftsbewegung der wichtigste Faktor für eine soziale Umwälzung ist, welche in der Richtung von Gerechtigkeit und Freiheit verläuft, macht sich auf den Gebieten des gewerkschaftlichen Lebens dieser unheilvolle Einfluß am stärksten bemerkbar.

Wir brauchen nur einen Blick auf das moderne Arbeitsrecht zu werfen, und sofort werden wir das Vorgesagte bewahrheitet finden. Leider kommt diese Tatsache den großen Massen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft gar nicht ins Bewußtsein, denn es sind nur zwei winzige, einfache Worte, welche den erwähnten unheilvollen Einfluß ausüben und das Bündnis zwischen den Organen des Staates und den genannten Spitzenverbänden ausdrücken. Dem Begriff ‚wirtschaftliche Vereinigungen’ wohnt eine sonderbare Bedeutung inne; denn er drückt nicht nur aus, daß wirtschaftliche Vereinigungen Vertretungsrecht für ihre Mitglieder besitzen, sondern verbirgt in sich eine Fülle von Begriffsbestimmungen. Jeder nicht von der Logik Verlassene wird zugeben müssen, daß man unter ‚wirtschaftliche Vereinigung’ ein Bündnis von Menschen versteht, welche irgendwie ihren wirtschaftlichen Vorteil wahrnehmen wollen. Der Zweck der Vereinigung ist somit Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen. Die Logik der Staatsorgane und der Spitzenverbände aber ist anders geartet. Sie gibt sich mit einer so einfachen Umschreibung der Begriffe nicht zufrieden, sondern versteht darunter dieses:

‚Wirtschaftliche Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im Sinne dieses Entwurfs sind die tariffähigen Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Die Aufnahme der Begriffsbestimmung in das Arbeitsgerichtsgesetz empfiehlt sich jedoch nicht, weil sie einheitlich für alle arbeitsrechtlichen Gesetze erfolgen muß. Dies kann am besten in dem kommenden Tarifgesetz geschehen.’

Das vorstehende Zitat entstammt einer Erklärung der Reichsregierung anläßlich der Beratung des Arbeitsgerichtsgesetzes. Der Reichsarbeitsminister Dr. Bruns hat dann bei der Beratung des gleichen Gegenstandes, am 11. Dezamber 1926, im Reichstag auf eine Anfrage, was unter ‚wirtschaftlicher Vereinigung’ zu verstehen sei, die folgende Antwort gegeben:

‚Ich möchte schon jetzt auf eine Anfrage eingehen, auf deren Beantwortung vorhin besonderes Gewicht gelegt worden ist. Der Begriff der wirtschaftlichen Vereinigung spielt bei der Zuständigkeit und der Errichtung der Arbeitsgerichtsbehörden eine beträchtliche Rolle, so in den §§ 2, 14, 17, 18 und anderen. Die Reichsregierung hat bereits im Ausschuß erklärt, daß als solche wirtschaftlichen Verbände die tariffähigen Organisationen zu gelten haben. Nun hat der Herr Abgeordnete Aufhäuser gefragt, welche Faktoren für die Anerkennung der Tariffähigkeit eines Verbandes bestimmend seien. Ich beziehe mich zur Beantwortung auf die bisherige Praxis. Danach ist es Aufgabe der Schlichtungsbehörde, der Gerichte und der Reichsarbeitsverwaltung, über diese Frage umstrittigen Falle zu entscheiden. In der Praxis dieser Behörden sowohl wie im Schrifttum haben sich nun gewisse Grundsätze für diese Entscheidung herausgebildet, deren wichtigster die tatsächliche Unabhängigkeit der betreffenden Organisationen in ihrer wirtschaftlichen Interessenvertretung gegenüber dem anderen Partner ist. So ist es bisher gehandhabt worden, und so soll es auch bei der Durchführung dieses Gesetzes gehandhabt werden. Das hindert nicht – das möchte ich auf die Anfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Pfeffer erwidern -, daß als Arbeitnehmerverbände im Sinne dieses Gesetzes unter Umständen auch solche in Betracht kommen können, den neben Arbeitern im engeren Sinne Angestellte und Beamte angehören, wenn nur die vorgenannte Hauptforderung der Unabhängigkeit erfüllt ist.’

Nach der offiziellen Begriffsbestimmung sind also solche Organisationen als wirtschaftliche Vereinigungen anzusprechen, die sich aus reinen ‚Arbeitnehmern’ oder reinen ‚Arbeitgebern’ zusammensetzen und Tariffähigkeit besitzen. Nach ebenfalls offizieller Begriffsbestimmung sind tariffähig solche Organisationen, die unter wirtschaftlicher Zweckbestimmung über tatsächliche Unabhängigkeit verfügen. Für die Organisation, die sich aus Arbeitern zusammensetzt, heißt das: sie darf kein Werkverein sein, sie darf nicht, wie die Arbeitnehmergruppen des Landbundes, einer Unternehmerorganisation, die in diesem Falle Spitzenverband ist, angehören, und sie darf endlich nicht von ‚Arbeitgebern’ finanziell unterstützt werden. Eine Vereinigung mit wirtschaftlichen Zwecken, die diese Bedingungen erfüllt, ist zwar formell tariffähig und damit ebenso formell wirtschaftliche Vereinigung im Sinne der Regierungserklärungen, kann aber erst dann an den öffentlichen Körperschaften, die das Arbeitsrecht notwendig machte, mitwirken oder in denselben oder vor denselben die Interessen ihrer Mitgliedschaft vertreten, wenn sie auch praktisch, also tatsächlich in der Lage ist, ihren Vereinigungszweck zu erfüllen.

Die vorhin erwähnten verbrieften ‚Grundrechte’ der Nation und das Verfassungswort ‚jeder Deutsche hat das Recht...’ sind also zum bloßen Possenspiel der Arbeitsrechtsjuristen in den Körperschaften der Reichsregierung und den Büros der Spitzenverbände herabgesunken. Aber auch nur so können sie ihren Zweck erfüllen, der darin besteht, gewerkschaftliche Minoritäten mit revolutionärem Einschlag an ihrer Entfaltung und in der Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitgliedschaft zu behindern. Die Männer in der Reichsregierung und die Führer der Spitzenverbände haben sehr wohl daran gedacht, Möglichkeiten zu schaffen, mit denen die revolutionären gewerkschaftlichen Minderheiten, trotz der schönen Verfassung von Weimar, trotz des überall hineingedrungenen Parlamentarismus und trotz der vielbesungenen sozialen Demokratie, rechtlos zu machen sind.

Die beste Möglichkeit, die gewerkschaftlichen Minderheiten zu treffen, bot da eben die Begriffsbestimmung jener beiden unscheinbaren Worte ‚wirtschaftliche Vereinigung’. Im Sinne der Gesetzgeber ist die wirtschaftliche Vereinigung als solche anzusprechen, die über Tariffähigkeit verfügt. Den Demagogenkniff begreifen nur wenige. Eine gewerkschaftliche Minorität kann zehnmal alle Bedingungen der offiziellen Begriffsbestimmung erfüllt haben. Sie kann eben so oft ihre satzungsgemäße und tatsächliche Bereitwilligkeit zum Abschluß von Tarifverträgen erklären. Sie kann aber unter Umständen den Satzungszweck nicht erfüllen, weil sie nur eine Minderheit ist. Keine Unternehmervereinigung schließt mit ihr einen Tarifvertrag ab. Und kein Arbeitsgericht wird ein Urteil fällen, wonach der Unternehmerverband und sein bisheriger Tarifvertragskontrahent verurteilt wird, mit der Minderheit einen Vertrag abzuschließen bzw. gemeinsam zu unterzeichnen. Die Vereinigung bleibt aus diesem Grunde Tarifunfähig und wird von allen Körperschaften des Arbeitsrechts ausgeschlossen; sei es vor den Schlichtungsausschüssen, vor den Arbeitsgerichten oder in den Körperschaften der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.

Der Staat will in diesen für den Kapitalismus so wichtigen Institutionen nur seine getreuen Lakaien haben. Er gibt ihnen ‚Vorrechte, damit sie unter Respektierung sogenannter wirtschaftlicher und rechtlicher ‚Notwendigkeiten’ ihre Lebenssäfte zum Verjüngungsprozeß der herrschenden Gesellschaft hergeben und alle Gewerkschaften, die den ungestörten Verlauf der kapitalistischen Wirtschaft gefährden, ersticken helfen.

Wie schon gesagt, tut der Staat aber nichts umsonst, er schafft Vorrechte, um einen bestimmten Zweck zu erreichen und die Spitzenverbände folgen in dieser Hinsicht seinem Beispiel. Sie führen ihre Mitgliedschaft in den Staat und in die Wirtschaft hinein, bilden dadurch den zuverlässigsten Schutz der gegenwärtigen Ordnung und verlangen und erhalten vom Staat dafür eine Vorrechtsstellung. Die beiden Wörtchen ‚wirtschaftliche Vereinigung’ drücken deshalb ein Geschäft auf Gegenseitigkeit aus. Ein Grund mehr für die syndikalistische Gewerkschaftsbewegung, die Arbeiterschaft unausgesetzt auf die Notwendigkeit der Kräftekonzentration in Gewerkschaftsverbänden zu verweisen, die durch solche Demagogenkniffe nicht beirrt, der alten Gesellschaft die Kräfte entziehen, ohne die sie sterben muß.“

Aus: „Die Internationale“, Nr. 4/1928, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006

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