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Fritz Linow
Rudolf Rocker - Die Entscheidung des Abendlandes
(Nationalismus und Kultur)
Mit diesem Werk legt Rudolf Rocker der deutschen Öffentlichkeit eine umfassende
Arbeit von außerordentlichem soziologischen Wert vor. Die von Rocker
angestellten Untersuchungen sprengen den Rahmen einer bloßen literarischen
Betrachtung der Zusammenhänge zwischen dem Nationalismus und der Kultur. Sie
werden bei Rocker zu Fragen des Grundsatzes und der Gesinnung und erhöhen damit
den Wert des Werkes noch erheblich. In unserer Zeit wirken diese Bände als wären
sie ihr auf den Leib geschrieben. Ohne jede trockene Theorie, mit feinem
Einfühlungsvermögen in den umfangreichen Stoff geschrieben, haben sie nicht nur
einen hohen sozialwissenschaftlichen und kulturpolitischen Wert, sondern, was
noch bedeutungsvoller ist, sie haben in dieser Zeit der Entscheidungen einen
geradezu enormen aktuellen Wert.
Unsere Zeit krankt an der Überschätzung der politischen Ordnung, an der
Unfehlbarkeit des Staates. Sie verquickt das ganze Problem der sozialen
Beziehungen mit dem Prinzip der Macht. Folglich sieht sie in den vielseitigen
menschlichen Beziehungen nicht mehr Lebensfragen, die ihre Ordnung in der
Vereinbarung zwischen den beteiligten Individuen finden. Sondern ist behext von
dem Glauben, daß der Staat als Ausdruck der öffentlichen Gewalt fähig sei, diese
Beziehungen zu einer guten Ordnung zu führen. Die staatliche Ordnung aber beruht
ihrem Wesen nach auf dem ständigen Versuch, menschliche Rechte und Freiheiten
einzuschränken. Als Ordnungsprinzip der Macht muß sie diese Rechte und
Freiheiten gering veranschlagen und bereit sein, sie immer und überall zu
begrenzen und einzuengen. Auf dem Boden des Machtgedankens wuchern die Ideen des
politischen Absolutismus und der Totalität des Staates. In dem Glauben an die
Lösung menschlicher und sozialer Probleme durch den Staat liegt die maßlose
Übersteigerung der Wirksamkeit des Staates, der heute tatsächlich bestrebt ist,
sich total zu machen. Das will heißen, daß er in immer neue Gebiete vorstößt und
sie seiner Kontrolle unterwirft. Der Staat soll alles, und der Staat kann alles.
Er wird quasi zu einem Hexenmeister erklärt. Programme werden zur Vergrößerung
seines Einflusses auf die Gesellschaft entworfen, und in der Konsequenz mancher
Staatstheorie stellt sich das Prinzip der Macht der politischen Gewalt sogar so
dar, daß der Besitz der Staatsgewalt einen radikalen Wandel vom absolut
Schlechten zum absolut Guten vollbringen wird, wenn nur die richtigen Männer
oder politischen Gruppen sich ihrer bedienen.
In den letzten Jahrzehnten hat die Staatsidee sich fast zu einer Religion
ausgewachsen und erhebt wie alle Religionen ihre Ausschließlichkeitsansprüche.
Unsere Zeit ist voll von Staatstheorien, aber sie ist auch voll von Furcht vor
diesen Theorien. Es ist wohl in der Menschheitsgeschichte immer so gewesen, dass
das Grauen in unmittelbarer Nachbarschaft der Hoffnung lebt. Wo heute Hoffnungen
auf den Staat gesetzt werden, da steht das Gauen Pate. Irgendwie lebt das
Gefühl, daß die Gesellschaft im Schlunde des Staates verschwindet. Die
Gesellschaft aber repräsentiert den Menschen, vereinfacht ausgedrückt: sie ist
der Mensch. Der Staat aber repräsentiert die Macht, den Willen zur Macht über
die Gesellschaft über den Menschen.
Der Staat ist ein gesellschaftsfremdes Element und in seiner höchsten
Ausdrucksform ein gesellschaftsfeindliches.
Es ist das Verdienst Rudolf Rockers, in seinem umfangreichen Werk der maßlosen
Überschätzung von Staat und Nation, die ganz besonders den Deutschen eigen ist,
den Gedanken menschlichter Verantwortung entgegengestellt zu haben. Rocker ist
weder Geschichtsmaterialist, noch vermag er den sogenannten wissenschaftlichen
Sozialismus zu verteidigen. Dieser wissenschaftliche Sozialismus ist ihm viel zu
mechanisch, er tut den Tatsachen Gewalt an, biegt sie für seine Zwecke zurecht
und schert den gesamten sozialen Entwicklungsprozeß über einen Kamm. Rocker
setzt dieser Auffassung die Überzeugung entgegen, dass es immer der Mensch ist,
der die Dinge gestaltet.
Rocker ist aber auch kein Metaphysiker. Die sozialen Formen sind ihm
Menschenwerk, bei ihm kreist alles um den Menschen. Es sieht das Individuum
nicht zweckgebunden, er läßt den Menschen nicht als eine Figur im Spiele stehen
ohne Freiheit, ohne Willen und damit ohne Verantwortung. Der Mensch ist bei dem
Autor nicht den sinnlos waltenden Kräften ausgeliefert. So ist es nur
selbstverständlich, daß der Geschichts- und Sozialforscher allen fatalistischen
Sinngebungen des menschlichten Sozialgeschickes mit überzeugenden Argumenten zu
Leibe geht. Er kommt zu der einzig möglichen und einzig vertretbaren
Überzeugung, daß der Mensch der Schöpfer seiner Sozialsysteme ist. Im
menschlichen Willen liegen die Elemente der Sozialentwicklung. Dieser Wille
schafft die gesellschaftlichen Formen, gibt ihnen ihren Charakter, bestimmt ihre
Wesen, verändert ihre Struktur.
Rocker stellt also den Menschen in das Zentrum seiner Geschichtsbetrachtung. Er,
der Mensch, ist für die Gesellschaft verantwortlich. Sie stellt den äußeren, den
sichtbaren Ausdruck seiner Beziehungen untereinander dar, und für diese
Beziehungen steht die menschliche Verantwortlichkeit fest.
Aus einer solchen Gesinnung resultiert aber auch ganz logisch die Ansicht, daß
der Staat die Gesellschaft verdrängt und damit die menschliche Kultur in Frage
stellt, ferner die Überzeugung, daß die menschlichen Beziehungen zu ihren
Ausgangspunkten zurückgeführt werden müssen. Rocker ist Föderalist nicht aus
opportunistischen Gründen. Sein Föderalismus ist nicht politische Handelsware,
die auf dem Markt der Machtkonstellationen zur Verhökerung gelangt. Rocker
entwickelt vielmehr den Föderalismus Proudhons konsequent weiter. Föderalismus
ist für ihn wie für diesen soziale Lebensform und deshalb das prägnanteste
Ausdrucksmittel sozialer Verantwortung, zugleich aber auch die wichtigste
Voraussetzung für eine Überwindung des lebens- und gesellschaftsfremden
Staatsapparates. In der Entwicklung föderativer Formen der sozialen Verwaltung
liegt die Zurückdrängung des staatlichen Allmachtprinzips und letztlich seine
Überwindung eingeschlossen. Die menschliche Kultur ist in der Hauptsache das
Resultat freiwilliger Zusammenschlüsse. Sie zeigt immer dann ihre höchste Blüte,
wenn der Mensch dem geringsten Maß an Reglementierung unterworfen ist. Die
Kultur lebt durch die Freiheit. Wo die Freiheit vom Dschungel der staatlichen
Beschränkungsmaßnahmen erstickt wird, hört die Kultur auf und findet ihre
Ablösung durch die zivilisatorischen Resultate des Staates.
Fälschlicherweise wird die durch Staatsmaßnahmen durchgeführte Zivilisation in
immer steigendem Maße als Kultur ausgegeben. In der "Entscheidung des
Abendlandes" aber ist schlüssig nachgewiesen, dass solche Zivilisation mit
Kultur nichts gemein hat, daß sie nicht einmal als Vorstufe einer solchen
betrachtet werden kann. Kultur wirkt in der Freiheit, in der Freiwilligkeit, in
der Solidarität, in den direkten Beziehungen der Menschen untereinander, sie
stirbt, wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind oder, so sie im steigenden
Maße der Ablösung durch den Befehl und das Prinzip des Gehorsams unterworfen
werden.
"Die Entscheidung des Abendlandes" ist ein Werk von bleibendem Wert. Dem Verlag
gilt Dank, daß er dem deutschen Lesepublikum diese wichtige Verlautbarung des
internationalen Büchermarktes zugänglich machte. An diesem Verdienst ist auch
die "Gilde freiheitlicher Bücherfreunde" beteiligt. Auch ihr gilt Dank für die
Initiative, die sie für die Herausgabe dieses Werkes entwickelte.
Zwei Bände freiheitlicher Geschichtsbetrachtung liegen vor uns. Sie sind eine
Fundgrube für die Resultate geistiger Entwicklung, Männern, die in Vergessenheit
geraten sind, gibt Rocker mit diesem Werk ihre geistige Bedeutung zurück. Für
den freiheitlichen Sozialismus sind diese Bände ein Standardwerk. Mit ihrer
Hilfe wird es in der Zukunft leichter sein, Standortbestimmungen der sozialen
Entwicklung zu treffen.
Ganz vorzüglich die Sprache und die Darstellungsart, die schwierige geistige,
politische, soziale und kulturelle Probleme auch dem weniger Belesenen, dem
einfachen Manne, verständlich macht.
Ein echter Rocker
Fritz Linow
Aus: "Die freie Gesellschaft", Nr. 3/1950
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