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Fritz Linow

Haftung der Gewerkschaften bei Streiks

„Die arbeitsrechtlichen Verhältnisse in Deutschland spitzen sich mehr und mehr zu Ungunsten der Arbeiterschaft zu. Das ganze neuere Arbeitsrecht, welches vornehmlich auf alte Bestimmungen, die lange vor dem Kriege erlassen wurden, zurückgeht, entpuppt sich mit der fortschreitenden Zentralisierung der Wirtschaftsmacht in Hand der Geldkoryphäen und Industriekapitäne als ein Mittel, die aufstrebende Arbeiterschaft mit legalen gesetzlichen Zwangsmaßnahmen zurückzuschlagen. Von der deutschen Gewerkschaftsbewegung wird diese Tatsache in ihrer ganzen Schwere in höchst ungenügendem Maße erkannt. Ja, vielfach ist es so, daß tiefeinschneidende arbeitsrechtliche Bestimmungen von den Gewerkschaftsführern gefordert werden. Solche Handlungen sind vom Standpunkt der Bestrebungen der Arbeiterschaft, des Klassenkampfes und der realen Machtverhältnisse verantwortungslos. Sie müssen unbedingt zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Arbeiter bei der Wahrnehmung ihrer Interessen führen.

Ganz besonders umfangreich sind in den letzten Jahren Gerichtsentscheidungen geworden, welche der Gewerkschaftsbewegung das Recht absprachen, sich unter allen Umständen hinter kämpfende Arbeiter zu stellen. Die diesbezüglichen Gerichtsentscheidungen stützen sich auf das Bürgerliche Gesetzbuch und zeigen mit unverhüllter Deutlichkeit an, daß der juristische Apparat der demokratischen Republik willens ist, Arbeitskämpfe durch Verklausulierung der Begriffsbestimmungen zu verhindern. Die Tatsache, daß Streiks, z.B. auf ihre rechtliche Erlaubnis hin geprüft werden, bestätigt dies. Die Folgen sind für die Arbeiterschaft und die Gewerkschaftsbewegung unabsehbar.

Die rechtliche Wertung des Streiks liegt im Wesen der Tarifvertrages, der wie alle anderen Verträge, die §§ 823 und 826 des BGB, zur Grundlage hat. Infolge dessen geht aus der Wertung des Streiks hervor daß er an sich ein erlaubtes Mittel im gewerblichen Lohnkampfe ist. Seine Widerrechtlichkeit ist, nach der Rechtsprechung der Gerichte zu urteilen, erst dann gegeben, wenn die angewandten Mittel verwerflich sind, durch ihn eine unverhältnismäßige Schädigung hervorgerufen wird oder wenn seine Ziele gebilligt werden können. In einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 29. April 1926 ist über den Streik gesagt:

‚Arbeitsniederlegung ist nicht für sich allein als unerlaubte Handlung anzusehen, wenn nicht die dabei angewandten Mittel unsittlich sind oder der dem Betrieb entstehende Schaden in ausgesprochenem Mißverhältnis zum Vorteil des Schädigenden steht.’

Arbeitsniederlegung ist also, wie schon gesagt, ein erlaubtes Mittel im gewerblichen Lohnkampfe. Unerlaubt wird sie erst, wenn der Vorteil, der dem Arbeiter aus der Arbeitsniederlegung erwächst, in keinem Verhältnis steht zu dem Schaden, den der Ausstand dem Unternehmen verursachte. Der an sich nicht sittenwidrige Streik wird auch unerlaubt und erhält einen unsittlichen Charakter, wenn zu seiner Verschärfung Betriebsstörungen verübt werden und damit über die Grenzen erlaubter Selbsthilfe und statthafter wirtschaftlicher Kampfweise geschritten wird.

Diese Rechtseinstellung der Gerichte bringt es mit sich, daß die Teilnahme an einem Streik, welcher eine unerlaubte Handlung darstellt, den Teilnehmenden zum Schadenersatz verpflichtet. Der Unternehmer ist auf Grund des § 826 des BGB. berechtigt, seinen Schadenersatzanspruch gegen die Lohnforderungen der Teilnehmer nach Maßgabe der Verordnung über das Lohnpfändungs- und Zurückbehaltungsrecht aufzurechnen. So kommt es also, daß der einzelne Arbeiter, der sich an einem Streik beteiligt, welcher eine unerlaubte Handlung darstellt bzw. sittenwidrig ist, den Arbeitsvertrag bricht und aus diesem Grunde sich wegen des § 123 der Gewerbeordnung (‚Kontaktbruch’) schadenersatzpflichtig macht.

So wie sich der einzelne Arbeiter wegen Kontraktbruches schadenersatzpflichtig macht, geht es auch der tarifgebundenen Gewerkschaft, wenn sie als Tarifvertragspartei den laufenden Tarifvertrag bricht oder aber ihre Mitgliedschaft zum Brechen desselben ermuntert oder aufordert bzw. wenn sie einen schon ausgebrochenen Streik, der gegen den laufenden Tarifvertrag verstößt, finanziell oder moralisch unterstützt.

Die aus dem Tarifvertrag entspringende Friedenspflicht der tarifgebundenen Gewerkschaften kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Treu und Glauben sowie Sinn und Zweck der Friedenspflicht können verlangen, daß die Tarifvertragsparteien sich vor Ausbruch eines Wirtschaftskampfes miteinander in Verbindung setzen und sich bei Anwendung der zu seiner Vermeidung zweckdienlichen Mittel gegenseitig unterstützen. In diesem Sinne faßt das Reichsgericht die Friedenspflicht der Gewerkschaften auf. Das hat zur Folge, daß Arbeitskämpfe, die gegen den Willen der Verbandsinstitutionen geführt werden, so gut wie unmöglich sind, weil sich die Tätigkeit der Tarifgewerkschaften durchaus mit der Einstellung des Reichsgerichts deckt. Die Friedenspflicht schließt ganz selbstverständlich in sich, daß eine Tarifvertragsgewerkschaft mit allen Mitteln die Durchbrechung oder Verletzung des Tarifvertrags verhindern muß. Wird ihr durch den Vertragspartner nachgewiesen, daß sie nicht auf ihre Mitgliedschaft einwirkte, um eine Verletzung der Friedenspflicht zu verhindern, dann ist sie für den Schaden, der dem Unternehmen durch den tarifvertragswidrigen Streik entstand, haftbar. Die Gewerkschaftsorganisation als Träger tariflicher Rechte und Pflichten ist aber für solche Streikschäden nicht nur allein verantwortlich. Verantwortlich sind auch ihre Bevollmächtigten und Organisationsgehilfen.

Ebenso wie bei der Verletzung der Friedenspflicht, tritt die Haftbarkeit der Gewerkschaften und ihrer Angestellten auch dann ein, wenn sie einen Streik unterstützen, der die Wiedereinstellung eines nach den gesetzlichen Bestimmungen zu recht fristlos entlassenen Arbeiters zum Ziele hat. Ein solcher Streik ist nach den Gerichtsentscheidungen sittenwidrig, da er sich als Machtmittel darstellt und nicht die Wahrung prinzipieller Arbeiterrechte, sondern die Durchsetzung des Machtstandpunktes erlangen will. Wenn also in einem solchen Fall die Ortsstelle der Gewerkschaft oder der Ortsstellenleiter den Kampf moralisch und finanziell unterstützt, dann sind beide für den entstandenen Schaden verantwortlich.

Ähnlich verhält es sich mit der Aufforderung zum Streik. Wer z.B. die Beamtenschaft der Kommunen, des Reiches und der Länder auffordert, zu streiken, durchbricht das Streikverbot der Beamten. Organisationen, welche zum Beamtenstreik auffordern, haften für alle Streikschäden, da der Art. 159 der Reichsverfassung wohl das Koalitionsrecht gewährleistet, jedoch nicht das Streikrecht.

Wie die Beamtenschaft vom Streikrecht ausgenommen ist, schließt die Koalitionsfreiheit auch für die Seeleute das Streikrecht aus. Ein Streik der Seeleute ist nach der herrschenden Rechtsauffassung selbst dann widerrechtlich, wenn vertragsmäßige Heueransprüche, gleichviel ob durch Tarifvertrag oder Einzelarbeitsvertrag vereinbart, damit erzwungen werden sollen.

Aber auch die Streiks, welche unter Nichtachtung tariflicher Schiedsklauseln geführt werden, sind sittenwidrig und deshalb gesetzlich unzulässig. Tarifvertragspartnern, die einen solchen Kampf führen, haften für den dem Unternehmertum daraus entstehenden Schaden.

Die Friedenspflicht, die dem Tarifvertrag innewohnt, erstreckt sich aber nicht nur auf freiwillig abgeschlossene Kollektivverträge. Der für verbindlich erklärte Schiedsspruch, also Zwangsvertrag hat dieselbe rechtliche Wirkung wie ein freiwillig vereinbarter Tarifvertrag. Unterläßt es eine Gewerkschaft, ihre Mitgliedschaft zur Erfüllung der auch aus dem Zwangstarif resultierenden Friedenspflicht anzuhalten, so folgt, falls der Zwangsvertrag durchbrochen wird, Haftung der entstandenen Streikschäden durch die Gewerkschaft. Natürlich muß in jedem Falle das Verschulden der Gewerkschaft festgestellt sein.

Wesentlich anders verhält es sich hingegen mit der Haftung der Gewerkschaften für Streikschäden aus Sympathiestreiks. Ein Sympathiestreik der von Arbeitern in Szene gesetzt wird, um anderen Arbeitern, welche der Tarifvertrag nicht erfaßt, praktische Unterstützung zu gewähren, verstößt nicht gegen den laufenden Tarifvertrag und die ihm innewohnende Friedenspflicht. Ein solcher Verstoß tritt erst dann ein, wenn im Tarifvertrag die Bestimmung enthalten ist, daß während seiner Dauer Streiks überhaupt nicht veranstaltet werden dürfen.

Die Haftung der Gewerkschaften und ihrer Organisationsgehilfen bei Streiks ist also in erster Linie auf die dem Tarifvertrag zugrunde liegende Friedenspflicht zurückzuführen. Der Tarifvertrag soll dem Arbeits- bzw. Wirtschaftsfrieden dienen und muß aus diesem Grunde ganz zwangsläufig für die Vertragsparteien in die Verpflichtung ausmünden, während seiner Laufzeit auf jedwede Kampfhandlung zu verzichten, die eine Änderung der im Tarifvertrag umschriebenen Lohn- und Arbeitsbedingungen erzwingen soll. Selbstverständlich ist, daß nur diejenigen Gewerkschaften sich einer Verletzung der Friedenspflicht durch Streiks mit dem Ziele: Aufhebung der alten tarifvertraglichen Bestimmungen, schuldig machen, die Träger des Tarifvertrages oder Partei desselben sind. Die Kampfhandlungen einer nicht tarifgebundenen Gewerkschaft, mit der sie entweder die Aufnahme in die Tarifgemeinschaft erzwingen oder, was in der Folgezeit mit dem Anwachsen der revolutionären Gewerkschaftsverbände öfter passieren kann, deren Sprengung bewirken will, sind nicht sittenwidrig und stellen keine unerlaubte Handlung dar. Wie das Oberlandesgericht Hamm in einem Urteil vom 15. Juni 1925 sagt, genügt auch der Umstand, daß der wirtschaftliche Kampf neben den eigentlichen Gegner auch noch andere Kreise schädigt, nicht, um den Charakter solcher Kampfhandlungen als sittenwidrig zu stempeln.

Bei der Betrachtung der Haftbarkeit der Gewerkschaften bei Streiks usw. darf natürlich nicht vergessen werden, daß sich die Entwicklung des Arbeitsrechts im steten Fluß befindet. Gegenwärtig wird in den Kreisen der Juristen, der Staats- und Wirtschaftsführer noch vom unsittlichen und sittenwidrigen Streik gesprochen, der diese Wertung aus der Verletzung eines eingegangenen Vertrages erhält. Es wird nicht allzu lange dauern, dann wird jede Streikhandlung als ein kriminelles Verbrechen betrachtet werden, welches die Interessen der augenblicklichen Wirtschaftsorganisationen auf das schwerste gefährdet. Die Entwicklung verläuft durchaus in diese Richtung. Die Gewerkschaftsbewegung hat selbst, soweit sie reformistisch ist, ein sehr lebhaftes Interesse daran, Arbeitskämpfe durch andere Mittel zu ersetzen. Das staatliche Schlichtungsverfahren weist den Weg, welchen die Entwicklung der Arbeitskämpfe für die Zukunft gehen wird, wenn nicht große Teile der deutschen Arbeiterschaft die drohende Gefahr einer vollständigen arbeitsgesetzlichen Versklavung erkennen. Neben dem Tarifvertragsgesetz, das sich im Arbeitsrechtsausschuß des Reichsarbeitsministeriums in Vorbereitung befindet, wird in letzter Zeit in den schwerindustrielle Kreisen Deutschlands lebhaft die Frage eines Wirtschaftskampfgesetzes erörtert. Ein solches Gesetz wird aller Wahrscheinlichkeit nach im Entwurf schon im nächsten Jahre zu erwarten sein.

Die Gefahr, die der Arbeiterschaft aus einer gesetzlichen Regelung des wirtschaftlichen Kampfes erwächst, ist so ungeheuer, da nur auf das Vorgesagte verwiesen werden braucht, um sich ein Bild von der künftigen Entwicklung des Arbeitsrechts in bezug auf die Führung von Streiks zu machen. Schon heute wird von sittenwidrigen Streiks gesprochen, werden Streiks, wenn sie gegen den Wirtschaftsfrieden verstoßen, als unerlaubte Handlung hingestellt, und nichts ist einfacher, als diesen Begriff durch gesetzliche Bestimmung auf alle Streiks auszudehnen. Unter Berücksichtigung der Interessendes Kapitalismus ist jede Regung der Lohnarbeiterschaft, welche das Ziel hat, die gegenwärtige gesellschaftliche Struktur zu verädern, ein Eingriff in die Rechte der privilegierten Klassen. Das freie Spiel der Kräfte, welches als Weltanschauungsgrundsatz der schwerindustriellen Kreise des deutschen Unternehmertums so oft bei den Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der sozialistischen und der individualistischen Weltanschauung ein Rolle spielte, ist durch den Grundsatz vom arbeitsgesetzlichen Zwang auf die Arbeiterschaft ersetzt worden. Die Schwerindustrie, welche eine durch staatliche Druckmittel gesicherte Wirtschaftsführung besonders nötig hat, wird alle politischen, finanziellen und ökonomischen Kräfte anspannen, um Störungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts durch Streiks mit Gesetzesmaßnahmen zu bekämpfen.

Wenn die deutsche Arbeiterschaft diese drohende Gefahr nicht erkennt, dann werden sich die allgemeinen Arbeitsverhältnisse in allen Gewerben und Industrien kurz über lang so verschlechtern, daß überhaupt nicht mehr von einer auf die gesellschaftliche Entwicklung und wirtschaftliche Struktur einwirkende Arbeiterbewegung gesprochen werden kann. Die gesetzliche Beschränkung der Wirtschaftskämpfe trifft den Lebensnerv der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaftsbewegung ist absolut überflüssig und zur Ohnmacht verdammt, wenn sie sich in ein Netz von arbeitsrechtlichen Bestimmungen verstricken läßt. Die ernsten Kreise der sozialistischen Arbeiterschaft müssen diese drohende Gefahr durch gesteigerte Aktivität bekämpfen. Die deutsche Arbeiterschaft geht dem trockenen Faschismus entgegen, wenn sie es nicht versteht, in absehbarer Zeit auf gewerkschaftlichem Gebiete Wandel zu schaffen. Der syndikalistischen Bewegung erwächst die Pflicht, alles zu tun, was Aufklärung der Massen der Arbeiteschaft anbelangt. Die syndikalistischen Gewerkschaften befinden sich heute in einer Sonderstellung. Ihre prinzipielle Einstellung, zum Teil auch ihre zahlenmäßige Schwäche bringt es mit sich, daß sie von den arbeitsrechtlichen Zwangsmaßnahmen des Staates bisher verschont blieben. Aber gerade diese Tatsache sollte die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung zur gesteigerten Aktivität drängen, um durch zahlenmäßige und prinzipielle Verstärkung den Kreis der revolutionären Gewerkschaftler zu vergrößern. Je größer der Kreis der Arbeiter, die mit wirtschaftlichen Mitteln gegen gesetzliche Beschränkung an ihrer Gewerkschaftsmacht ankämpfen, um so größer der Einfluß, der gegen das arbeitsrechtliche Labyrinth geltend gemacht werden kann.

Aus: „Die Internationale“, Nr. 6/1928, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006

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