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Fritz Linow
Gewerkschaftliche Interessenvertretung und
Arbeitsgerichtsbarkeit
„Je mehr sich die kapitalistische Wirtschaft dem Zustand der absoluten
Kartellherrschaft nähert, um so größer werden die Interessengegensätze zwischen
den Besitzern der Rohstoffe und Arbeitsinstrumente und den Inhabern der
manuellen und intellektuellen Arbeitskraft.
Es ist selbstverständlich, daß die Wirkungen der sich ständig erweiternden Kluft
zwischen den verschiedenen Wirtschaftskreisen zu gewaltigen Spannungen in der
ganzen Gesellschaftsorganisation führen, denn in dem Maße, wie sich die
industriellen und agrarischen Produktionsformen verdichten, wie sie sich
zentralisieren und in den Händen weniger Kapitalsbesitzer konzentrieren, wächst
der wirtschaftliche Despotismus einer schwachen Minorität einerseits und die
wirtschaftliche Ohnmacht großer Volksmassen andererseits. Für die so geschaffene
Situation auf dem Gebiete der Gütererzeugung gibt es nur zwei Möglichkeiten,
sich gegen den wachsenden, aber meist ganz instinktiven Widerstand der an der
kapitalistischen Wirtschaftsweise desinteressierten Volksmassen durchzusetzen.
Die eine dieser Möglichkeiten ist die vollständige Tyrannei auf allen Gebieten
des Gesellschaftslebens. Sie mündet aus in die Herrschaft des Faschismus. Die
andere liegt auf dem Gebiete der sogenannten gütlichen Verständigung und bildet
in Deutschland das wirksamste Mittel des Unternehmertums, sich gegen die
Arbeiterschaft durchzusetzen.
Es darf bei der letzten Möglichkeit aber nicht verkannt werden, daß auch sie
eine Form des Despotismus ist. Nur sind die Mittel, derer sie sich bedient,
gemilderter, aber deshalb nicht weniger gefährlich als die der faschistischen
Willkürherrschaft. Die letzte Tatsache tritt ganz besonders klar in Erscheinung,
wenn wir einen Blick auf die Beschränkung der gewerkschaftlichen
Koalitionsfreiheit, der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und des
gewerkschaftlichen Kampfes gegen die kapitalistische Monopolwirtschaft werfen
und dabei nicht vergessen, die Arbeitsgerichtsbarkeit in den Kreis unserer
Betrachtungen einzubeziehen. Vergessen soll bei dieser Betrachtung aber auch
nicht werden, daß gerade die Arbeitsgerichtsbarkeit die gewerkschaftlichen
Methoden und Tätigkeitsgebiete beschränkte, um solchermaßen die Wirtschaft vor
Erschütterungen zu bewahren.
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist keine neue Erfindung des Kapitalismus in seiner
industriellen Form. Schon im Mittelalter gab es in den Gilden und Zünften
Schiedsgerichte, die Arbeitsstreitigkeiten zu schlichten hatten, die aus dem
individuellen Arbeitsertrag erwuchsen. Diese Schiedsstellen hatten aber keinen
absoluten Charakter, wie das später in Frankreich bei dem von Napoleon I. ins
Leben gerufenen Kammern für Arbeitsstreitigkeiten der Fall war. Auch die
Königlich Preußischen Fabrikgerichte des Rheinlandes, die ursprünglich von
demselben Napoleon eingesetzt waren, bedienten sich einer absoluten
Rechtsprechung. Das gefällte Urteil war unanfechtbar. Es galt für alle Teile der
streitenden Parteien. Als dann im Jahre 1869 die Gewerbeordnung für den
Norddeutschen Bund geschaffen wurde, wollte man auch hier Kammern für
Arbeitsstreitigkeiten bilden. Diese Kammern sind aber durch die Tatsache, daß
das Sozialistengesetz der Arbeiterschaft die Möglichkeit der Vereinigung nahm,
fast niemals in Funktion getreten. Erst im Jahre 1890 wurde ein
Gewerbegerichtsgesetz erlassen, welches dann im Jahre 1901 eine
Zuständigkeitserweiterung bekam. Es oblag den Städten und Gemeinden mit über
20.000 Einwohnern, Gewerbegerichte zu bilden, die dafür notwendigen
Räumlichkeiten zu schaffen und teilweise auch die Kosten ihrer Unterhaltung zu
tragen. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich lediglich auf die Entscheidung über
Streitigkeiten, die aus dem Arbeitsverhältnis zwischen gewerblichen Unternehmern
und Arbeitern entstehen. Zu diesen gewerblichen Arbeitern wurden auch
Werkmeister und Techniker gezählt, soweit sie eine gewisse
Arbeitsverdienstgrenze nicht überschritten. Im Bergbau wurden staatliche
Berggewerbegerichte gebildet. Innungen und Innungsschiedsgerichte wurden als
Stellen, die berechtigt sind, Arbeitsstreitigkeiten zu schlichten, durch dieses
Gesetz zugelassen. Im Jahre 1904 wurde dann das Kaufmannsgericht erlassen. Die
zu bildenden Kaufmannsgerichte hatten sich mit Arbeitsstreitigkeiten aus dem
Angestelltenverhältnis zu befassen. Diese neueren arbeitsgerichtlichen Gesetze
stützen sich vornehmlich auf die im Jahre 1845 geschaffene Preußische
Gewerbeordnung, die dann später vom Norddeutschen Bund (1869) und 1890 vom Reich
unter vielfachen Änderungen Gültigkeit für alle Glieder des deutschen
Staatsgebildes erhielt. Die Gewerbeordnung ist noch heute mit Ausnahme einiger
Paragraphen in Kraft und soll erst durch das Arbeitsschutzgesetz abgelöst
werden, dessen Entwurf dem Reichstag vorliegt. Die Gewerbsordnung schuf eine
Fülle von Ausnahmebestimmungen gegen die Arbeiterschaft und sollte dazu dienen,
Arbeitsstreitigkeiten unmöglich zu machen bzw. dem Unternehmertum das Recht zu
geben, den sogenannten „freien Arbeiter“ wie einen Sklaven zu behandeln.
Ganz besonders wurde die gewerkschaftliche Betätigung durch die
Reichsgewerbeordnung beschränkt. Die Interessenvertretung der Arbeiter sollte
sich in gesetzlich erlaubten und sanktionierten Bahnen bewegen. Durch die
reformistische Einstellung großer Teile der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist
das auch möglich geworden. Die gewerkschaftliche Organisation wurde damit ihres
eigentlichen Charakters entkleidet und zu einer gerichtlichen Vertretungsstelle
degradiert. Das Fehlen des sozialistischen und revolutionären Schwungs in den
freien Gewerkschaften hat dann neben der Reichsgewerbeordnung und dem
Gewerbegerichtsgesetz dazu beigetragen, daß die Arbeiterschaft mehr und mehr auf
das Gebiet des friedlichen Ausgleiches gedrängt wurde. Dabei aber ist
festzustellen, daß auch die Gewerbegerichte Klasseneinrichtungen der
bürgerlichen Staatsmacht waren, die ihre Entscheidungen nur im Rahmen der
Zuträglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft und in Übereinstimmung mit der
herrschenden Rechtsauffassung fällten.
Das Arbeitsgerichtswesen erfuhr auch keine prinzipielle Änderung, als der
deutsche Monarchismus in den Novembertagen 1918 seinen Zusammenbruch erlebte. Es
kann sogar gesagt werden, daß die Formen der Arbeitsgerichtsbarkeit sich auf
Grund der Erweiterung der Geltungsgrenzen der Gerichte für Arbeitsstreitigkeiten
sich zu ungunsten der Arbeiterschaft verschoben haben, denn damit, daß die
Reichsverfassung vom 11. August 1919 im Art. 157 sagt: „Die Arbeitskraft steht
unter dem besonderen Schutz des Reiches. Das Reich schafft ein einheitliches
Arbeitsrecht“, wurde in großen Massen der demokratisch eingestellten
Arbeiterschaft der Glaube erweckt, daß durch die Autorität staatlicher
Einrichtungen wie Schiedsgerichte, Schlichtungsausschüsse, Kammern für
Arbeitsstreitigkeiten usw. die Möglichkeit bestände, die Interessen der
Lohnarbeiterschaft in höherem Maße als bisher wahrzunehmen.
Das neue Arbeitsrecht, das auf Grund der Reichsverfassung gegeben wurde, hat
dann bewiesen, daß die Hoffnungen der Arbeiter trügerisch waren. Besonders kraß
tritt dies bei dem am 23. Dezember 1926 angenommenen Arbeitsgerichtsgesetz
zutage. Dieses Gesetz wurde von den deutschen Gewerkschaften gefordert, um eine
Zentralisation der Arbeitsrechtsprechung durchzuführen. Mit der Annahme bzw. mit
dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juni 1927 wurde dann diese Zentralisation
auch tatsächlich erreicht. Damit aber ist die gewerkschaftliche
Interessenvertretung keinen einzigen Schritt voran gekommen. Im Gegenteil, die
Arbeitsgerichte, die nach dem Arbeitsgerichtsgesetz gebildet wurde, erhielten
eine Machtbefugnis, die es diesen Körperschaften ermöglichte, jede kollektive
Äußerung der Arbeiterschaft auf gewerkschaftlichem Gebiet zu unterdrücken.
Während die preußischen Gewerbegerichte nur Streitigkeiten aus dem
Arbeitsverhältnis schlichten konnten, wurden die Arbeitsgerichte nach dem
erwähnten Gesetz ermächtigt, auch alle anderen Streitigkeiten im Interesse einer
geregelten Produktionsweise zu „schlichten“. Früher war es Aufgabe der
ordentlichen bürgerlichen Gerichte, über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten
zwischen Tarifvertragsparteien und Dritten zu entscheiden. Heute ist das Aufgabe
der Arbeitsgerichte. Auch die aus unerlaubten Handlungen entstehenden
Rechtsstreitigkeiten werden vor den Arbeitsgerichten entschieden, soweit sie
zwischen Tarifparteien oder Arbeitern und Unternehmern ausbrechen und auf
wirtschaftlichem Gebiete liegen. So konnte es kommen, daß Arbeitsgerichte in
letzter Zeit einstweilige Verfügungen gegen kämpfende Arbeiter und ihre
Gewerkschaften erließen, in denen diesen bei hohen Strafen verboten wurde, den
Arbeitskampf irgendwie zu unterstützen. Früher war dafür ein langer Rechtsweg
vor den ordentlichen und bürgerlichen Gerichten nötig. Heute kann auf Grund des
Arbeitsgerichtsgesetzes eine einstweilige Verfügung im Zeitraum weniger Tage
erwirkt werden.
Die Arbeitsgerichte greifen also in die gewerkschaftliche Interessenvertretung
ein und hindern die Gewerkschaftsorganisationen an der Entfaltung ihrer Macht.
Trotz dieser Tatsache soll aber nicht verkannt werden, daß das
Arbeitsgerichtsgesetz auch gewisse Vorteile für die Schlichtung von
Arbeitsstreitigkeiten brachte. Während bei den früheren Gewerbegerichten etwaige
Berufungen vor den ordentlichen bürgerlichen Gerichten, und zwar den
Landgerichten, entschieden wurden, besteht nach dem Gesetz vom 23. Dezember 1926
die Möglichkeit, Berufung gegen das Urteil eines Arbeitsgerichts einzulegen,
wenn der Streitgegenstand den Wert von 300 M. übersteigt oder wenn der
Streitgegenstand prinzipieller Natur ist. In letzterem Falle entscheidet das
Arbeitsgericht über die Zulässigkeit der Berufung. Das ist immerhin ein Vorteil,
der in Einzelstreitigkeiten anerkannt werden kann. Für Gesamtstreitigkeiten ist
aber auch er schwerlich fruchtbringend, da das Berufungsverfahren immerhin viel
Zeit erfordert.
Eine weitere Verschlechterung brachte das Arbeitsgerichtsgesetz im Hinblick auf
das Vertretungsrecht. Bei den Gewerbegerichten kümmerte sich niemand um die
Zugehörigkeit der Prozeßvertreter, der Kläger oder der Beklagten zu einer
wirtschaftlichen Organisation. Die Arbeitsgerichte haben in dieser Beziehung
eine fast grundsätzliche Änderung durchgeführt. Mir ist nicht ein einziger Fall
bekannt, wo von Gewerbegerichten die Vorlegung der Statuten einer vor dem
Gericht erscheinenden Wirtschaftsorganisation oder deren Vertreter gefordert
wurde. Die Arbeitsgerichte haben, gestützt auf den § 11 des
Arbeitsgerichtsgesetzes, dieses Kunststück fertiggebracht. In dem angezogenen
Paragraphen heißt es u.a.: ,...zugelassen sind jedoch Mitglieder und Angestellte
wirtschaftlicher Vereinigungen von Arbeitgebern oder von Arbeitnehmern oder von
Verbänden solcher Vereinigungen, die kraft Satzung (Hervorhebung im Original, d.
Tipper) oder Vollmacht zur Vertretung befugt sind, soweit sie für die
Vereinigung oder für Mitglieder der Vereinigung auftreten und nicht neben dieser
Vertretung die Tätigkeit als Rechtsanwalt ausüben...’.
Mit Hilfe dieser Auslassung im Gesetz machen die Arbeitsgerichte den Versuch,
alle wirtschaftlichen Vereinigungen, die nicht grundsätzlich auf dem Boden der
friedlichen Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten stehen, also den
Gewerkschaftskampf nicht als eine bloße reformistische, sondern auch als eine
revolutionäre Tätigkeit ansehen, von der Vertretung ihrer Mitglieder vor den
Arbeitsgerichten auszuschließen. Deshalb müssen alle Statuten gewerkschaftlicher
Vereinigungen ausdrücken, daß die Vereinigung den Zweck der Verbesserung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen und der kostenlosen Vertretung des Mitgliedes bei
Rechtsstreitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis (Hervorhebung im Original, d.
Tipper) verfolgt. Wo der Vereinigungszweck so umschrieben ist, kann eine
Beanstandung von Organisationsvertretern nicht erfolgen.
Zusammengefaßt kann über den Einfluß der Arbeitsgerichtsbarkeit auf die
gewerkschaftliche Interessenvertretung gesagt werden, daß sie dem Arbeiter ein
Scheinrecht vortäuscht und seine Arbeitskraft unter die Autorität des Staates
stellt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit verfolgt den Zweck, die kapitalistische
Wirtschaft zu schützen, ihr eine ungestörte Entwicklung zu sichern und die
Wirtschaftsorganisationen der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen zu behindern. Aus
diesem Grunde fordern die revolutionären Gewerkschafter, soweit sie sich zu
syndikalistischen Kampfmethoden bekennen, nicht einen Ausbau der
Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern die freie Entfaltung der gewerkschaftlichen
Aktionstat. Nur diese nimmt die Interessen der Arbeiterschaft wahr, nicht eine
staatliche, auf Klassenherrschaft begründete Gerichtsbarkeit für
Arbeitsstreitigkeiten.“
Aus: „Die Internationale“, Nr. 3/1928, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.):
Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006
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