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Arthur Lehning zum 100. Geburtstag,
von Johannes Hilmer
Mit Arthur Lehning wird am 23 .Oktober ein Mann 100 Jahre alt, der sich - erst
in der anarchosyndikalistischen Bewegung, dann als Historiker - zeit seines
Lebens für eine Gesellschaft ohne Staat und Kapital eingesetzt hat.
Geboren am 23.10.1899 in Utrecht, studiert A. Lehning nach Abitur und
Militärdienst 1919 Wirtschaftswissenschaften in Rotterdam und später in Berlin.
Im gleichen Jahr liest Lehning, der sich schon früh für Literatur und
Philosophieinteressiert und 1924 in Paris die moderne Malerei der
Expressionisten, Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten entdeckt, zum ersten
Mal ein Werk des russischen Anarchisten Michail Bakunin. In Berlin hört er
Vorlesungen von Werner Sombart und die des ersten Lehrstuhlinhabers für
Sozialgeschichte in Deutschland, Gustav Mayer. Hier trifft er den deutschen
Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker und die aus den Moskauer Gefängnissen
entlassenen russischen Anarchisten Alexander Berkman und Emma Goldman und
engagiert sich im Komitee für die Verteidigung von in der Sowjetunion verfolgten
Anarchisten und Sozialrevolutionären. Ebenfalls in Berlin arbeitet Lehning seit
1922 als Korrespondent des Internationalen Antimilitaristischen Büros (IAMB),
einer 1921 in Den Haag gegründeten und im wesentlichen auf Holland beschränkten
Organisation zur Bekämpfung von Militarismus und Krieg.
Der Schwerpunkt seiner regen publizistischen Tätigkeit in der Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen liegt in der Analyse der drohenden Kriegsgefahr. 1924
kritisiert er in seiner Broschüre "Die Sozialdemokratie und der Krieg" die
sozialdemokratische Rechtfertigung von Verteidigungskriegen, die er bis auf Karl
Marx' Haltung zum deutschfranzösischen Krieg 1870/71 zurückverfolgt.
Demgegenüber arbeitet Lehning die anarchistische Tradition des Generalstreiks
als Reaktion auf den Kriegsausbruch heraus, wie es schon die 1.Internationale
Arbeiter-Assoziation in einer Resolution des Brüsseler Kongresses 1868 gefordert
hatte.
In den folgenden Jahren präzisierte er diese Strategie gegen den Krieg. Er
schlug die Bildung von Fabrikkomitees vor, die die Umstellung der Produktion für
die Erfordernisse des Krieges untersuchen und entsprechende Maßnahmen dagegen
vorbereiten sollten. Schon in Friedenszeiten sollten die Arbeiter aus Protest
gegen die Kriegsproduktion die Arbeit niederlegen, als Beweis ihrer Fähigkeit
und Entschlossenheit, bei Kriegsausbruch in den Generalstreik zu treten. Der von
Lehning zur Verhinderung des Krieges vorgeschlagene Generalstreik des
Proletariats aller kriegführenden Nationen erforderte die Überwindung des
"passiven Militarismus" - von ihm definiert als die tatenlose Hinnahme der
Aufrüstung durch die Bevölkerung - und sollte die Soziale Revolution einleiten,
die mit der Vernichtung von Kapital und Staat auch den Militarismus und die
Kriegsursachen beseitigen würde. Die selbständig - ohne Anweisungen
irgendwelcher Führer oder Parteien - handelnden Arbeiter hätten mit der
Durchführung des Generalstreiks nicht nur den durch blinde Unterwerfung
gekennzeichneten Geist des Militarismus überwunden, sondern gleichzeitig jene
ethisch-moralische Gesinnung an den Tag gelegt, die "die Menschheit auf eine
höhere Stufe der Kultur" hebt und für Lehning ein unentbehrlicher Bestandteil
der neuen libertären Gesellschaft ist.
Wiewohl Lehning kein dogmatischer Verfechter der Gewaltlosigkeit war, wurzelte
seine antimilitaristische Haltung in jener in Holland sich seit der
Jahrhundertwende herausgebildeten Mischung aus religiösem Sozialismus und einem
durch Leo Tolstoi geprägten Anarchismus, der mit Bart de Ligt und Clara
Meijer-Wichmann eine spezifisch holländische Tradition des gewaltfreien Handelns
entwickelte. Lehning war sowohl in der niederländischen wie in der
internationalen anarchosyndikalistischen Bewegung tätig. Von 1932 bis 1935 war
er mit Augustin Souchy, Alexander Schapiro und Rudolf Rocker Mitglied im
Sekretariat der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), die Ende 1922 in
Berlin als Zusammenschluß der wichtigsten anarchosyndikalistischen
Organisationen aus der ganzen Welt gegründet worden war. 1927 bis 1934
redigierte Lehning mit Albert de Jong, Augustin Souchy und Helmut Rüdiger den
Pressedienst der Internationalen Antimilitaristischen Kommission (IAK), die sich
aus Vertretern der IAA und des IAMB zusammensetzte. Hier wurden Kriegsursachen
und -ziele und die Abrüstungsverhandlungen in Genf diskutiert, Informationen
über die antimilitaristische Bewegung gesammelt und an ca. 800 Zeitungen und
Zeitschriften weitergereicht.
Im Pressedienst der IAK wurde Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre
eine für die anarchistische Theoriebildung bedeutende Diskussion über die
Methoden der Verteidigung einer siegreichen Revolution geführt. Lehning und sein
Mitstreiter Albert de Jong lehnten für den Fall einer bewaffneten Intervention
von außen jede gewaltsame Verteidigung der Revolution - etwa durch den Aufbau
revolutionärer Milizen oder eines roten Heeres wie in der Sowjetunion - ab.
Stattdessen plädierten sie für gewaltfreie Aktionen wie Streiks, Boykott,
Steuerverweigerung, passiven Widerstand und Verweigerung jeder Zusammenarbeit
mit den Aggressoren. In der Bildung einer Roten Armee und der damit
einhergehenden Zentralisierung und Hierarchisierung sahen de Jong und Lehning
die Gefahr eines Wiederaufbaus der gerade abgeschafften Staatsmacht. Auch wenn
diese Theorie der gewaltsamen Verteidigung der Revolution mit dem
anarchistischen Anliegen, die Ziele in den Mitteln vorwegzunehmen,
übereinstimmt, blieben ihre Verfechter innerhalb der IAA in der Minderheit, da
die Mehrheit angesichts des Faschismus in Deutschland und Italien die Bewaffnung
des Proletariats erwog.
Von Januar 1927 bis Juni 1929 gibt Lehning die Avantgarde-Zeitschrift HO (s.FR
vom 23.8.1997) heraus, in der alle neuen revolutionären Strömungen in Kunst und
Politik zu Wort kommen und die seine Überzeugung widerspiegeln, daß "nur eine
Revolutionierung des gesamten Lebens" den Aufbau einer herrschaftsfreien
Gesellschaft ermöglicht. Unterstützt wird Lehning dabei von dem für Architektur
zuständigen Redakteur JJ.P.Oud, Mitbegründer von "De Stijl" und dem für Film und
Foto verantwortlichen Redakteur Laszló Moholy-Nagy. In der viersprachigen -auf
niederländisch, deutsch, englisch und französisch erscheinenden - Zeitschrift
schreiben die Dadaisten Hans Arp und Kurt Schwitters, der hier seine Sonate in
Urlauten erstmals veröffentlicht, ebenso Artikel wie die Marxisten Ernst Bloch
und Walter Benjamin, die Architekten Le Corbusier und Gerrit Rietveld, die
Anarchisten Max Nettlau, Rudolf Rocker und Bart de Ligt, die Maler Wassily
Kandinsky, Piet Mondrian und El Lissitzky, der Schriftsteller Upton Sinclair,
die Frauenrechtlerin und Sexualreformerin Helene Stöcker und viele mehr. Lehning
fordert in seinen Beiträgen die Freilassung der zum Tode verurteilten
amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, kritisiert die Filmzensur in
Holland und setzt sich für ein Ende des Abtreibungsverbots sowie eine radikale
Reform der sexuellen und gesellschaftlichen Moral in Holland ein. Nach dem
Vorbild Franz Pfemferts in der "Aktion" zur Zeit des 1.Weltkrieges versucht
Lehning durch den Abdruck offizieller Dokumente und von Zeitungsartikeln die
Widersprüche und Lügen der veröffentlichten Meinung aufzuzeigen.
1934 und 1935 legt er, der als Ausländer sich in Holland nicht mehr politisch
betätigen darf, seine Funktionen bei der IAK, der IAA und innerhalb des
holländischen Anarchosyndikalismus nieder. Sein letztes praktisches Eingreifen
führt ihn im Oktober 1936 nach Spanien, wo er als inoffizieller Vertreter der
IAA vergeblich versucht, in Gesprächen mit führenden spanischen Anarchisten die
Bürokratisierung und Zerschlagung der Sozialen Revolution zu verhindern.
Um die Jahrhundertwende 1935/36 wird er Mitarbeiter des von ihm mitgegründeten
"Internationalen Instituts für Soziale Geschichte" (IISG) in Amsterdam. Durch
seine Vermittlung erwirbt das IISG die Sammlung des anarchistischen Historikers
Max Nettlau.
Seit 1939 baut Lehning in Oxford eine englische Filiale des IISG auf. Nach dem
Ende seiner Internierung im Juni 1941 ist er wechselweise in der
niederländischen Abteilung der BBC, im britischen Außenministerium und für das
US-Kriegsinformationsministerium in London tätig. 1947 erhält er die britische
Staatsangehörigkeit.
Im Februar 1952 fährt er nach Indonesien, um in Jarkarta eine Bibliothek für
Soziale Geschichte aufzubauen, deren etwa 15.000 Titel Lehning in Reisen durch
ganz Europa zusammengekauft hat. Von 1954 bis 1957 lehrt er an der Universität
Jarkarta.
Von 1961 bis 1981 gibt er im Auftrag des IISG in sieben Bänden das "Archives
Bakounine" heraus, eine nach Themen geordnete Sammlung der wichtigsten Werke
Bakunins in der jeweiligen Originalsprache und einer französischen Übersetzung.
Nach dem Ende seines aktiven anarchosyndikalistischen Engagements 1936, das
zeitlich mit dem Scheitern der spanischen Revolution bzw. der größten
anarchosyndikalistischen Organisation, der spanischen CNT im spanischen
Bürgerkrieg zusammenfällt, ist Lehning als Historiker tätig und ficht auf
wissenschaftlichen Kongressen, in Vorlesungen und Vorträgen auf der ganzen Welt
bzw. seinen Veröffentlichungen weiter für das Ziel einer libertären
Gesellschaft, für deren Etablierung er nun - statt des Generalstreiks - das
Mittel des Zivilen Ungehorsams vorschlägt.
Aus: Schwarzer Faden Nr. 69 (1999)
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