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Paul Lafargue
Das Recht auf Faulheit (1883)
Widerlegung des »Rechts auf Arbeit« von 1848
Vorwort
Im Jahre 1849 sagte Herr Thiers als Mitglied der Kommission für den
Grundschulunterricht: »Ich will den Einfluß der Kirche umfassend wieder
herstellen, weil ich auf sie zähle in der Verbreitung jener guten Philosophie,
die den Menschen lehrt, daß er hier ist, um zu leiden, und nicht jener anderen
Philosophie, die im Gegenteil zum Menschen sagt: »Genieße!«.« Herr Thiers
drückte damit die Moral der Bourgeoisie aus, deren brutaler Egoismus und deren
engherzige Denkart sich in ihm verkörperte.
Als die Bourgeoisie noch gegen den von der Kirche unterstützten Adel kämpfte,
befürwortete sie freie Forschung und Atheismus, kaum aber hatte sie ihr Ziel
erreicht, so änderte sie Ton und Haltung. Und heute sehen wir sie bemüht, ihre
ökonomische und politische Herrschaft auf die Religion zu stützen. Im 15. und
16. Jahrhundert hatte sie fröhlich die Überlieferungen des Heidentums
aufgegriffen und das Fleisch und dessen Leidenschaften, diese Greueln in den
Augen des Christentums, verherrlicht; heute dagegen, gestopft mit Gütern und
Genüssen, will sie von den Lehren ihrer Denker, der Rabelais und Diderot, nichts
mehr wissen und predigt den Lohnarbeitern Enthaltsamkeit. Die kapitalistische
Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des
Arbeiters mit einem Fluch; ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des
Produzenten auf das geringste Minimum zu drücken, seine Freude und seine
Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus
der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.
Die revolutionären Sozialisten müssen also den Kampf, den einst die Philosophen
und Flugblattschreiber der Bourgeoisie gekämpft haben, wieder aufnehmen; sie
müssen gegen die Moral und die Soziallehren Sturm laufen und in den Köpfen der
zur Aktion gerufenen Klasse die Vorurteile ausrotten, welche die herrschende
Klasse gesät hat; sie müssen allen Heuchlern gegenüber verkünden, daß die Erde
aufhören wird, das Tal der Tränen für die Arbeiter zu sein, daß in der
kommunistischen Gesellschaft, die wir errichten werden »wenn es geht, friedlich,
wenn nicht, mit Gewalt«, die menschlichen Leidenschaften sich selbst überlassen
werden, da alle »von Natur aus gut sind, wir nur ihren falschen und übermäßigen
Gebrauch zu vermeiden haben« [1]. Und das wird nur durch das freie Gegenspiel
der Leidenschaften und die harmonische Entwicklung des menschlichen Körpers
erreicht, denn, sagt Dr. Beddoe, »erst wenn eine Rasse das Höchste ihrer
körperlichen Entwicklung erreicht, erreicht sie auch den höchsten Grad
moralischer Kraft und Energie«. Das war auch die Meinung des großen
Naturforschers Charles Darwin [2].
Die Widerlegung des Rechts auf Arbeit, die ich mit einigen zusätzlichen
Anmerkungen neu herausgebe, erschien in der Wochenzeitschrift L'Egalité von
1880.
P.L.
(Gefängnis Sainte-Pélagie, 1883.)
Ein verderbliches Dogma
Laßt uns faul in allen Sachen,
Nur nicht faul zu Lieb' und Wein,
Nur nicht faul zur Faulheit sein.
Lessing
Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die
kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend
zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese
Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende Arbeitssucht, getrieben bis zur
Erschöpfung der Lebensenergie des Einzelnen und seiner Nachkommen. Statt gegen
diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die
Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben
sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie
das, was ihr Gott verworfen hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der
ich weder Christ, noch Ökonom, noch Moralist bin, ich appelliere von ihrem
Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen
oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Folgen der Arbeit in der
kapitalistischen Gesellschaft.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen
Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einem
menschlichen Dienerpack bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild
mit den schwerfälligen normannischen Gäulen, welche das Land beackern, den
Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren. Man betrachte den edlen Wilden, wenn
ihn die Missionare des Handels und die Vertreter in Glaubensartikeln noch nicht
durch Christentum, Syphilis und das Dogma der Arbeit verdorben haben, und dann
vergleiche man mit ihm unsere elenden Maschinensklaven. [3]
Will man in unserem zivilisierten Europa noch eine Spur der ursprünglichen
Schönheit des Menschen finden, so muß man zu den Nationen gehen, bei denen das
wirtschaftliche Vorurteil den Haß gegen die Arbeit noch nicht ausgerottet hat.
Spanien, das -ach!- verkommt, darf sich rühmen, wenigggger Fabriken zu besitzen
als wir Gefängnisse und Kasernen; aber der Künstler genießt, den kühnen,
kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusier zu bewundern; und unser
Herz schlägt höher, wenn wir den in seinem durchlöcherten Umhang majestätisch
bekleideten Bettler einen Herzog von Orsana mit »Amigo« anreden hören. Für den
Spanier, in dem das ursprüngliche Tier noch nicht ertötet ist, ist die Arbeit
die schlimmste Sklaverei. [4] Auch die Griechen hatten in der Zeit ihrer
höchsten Blüte nur Verachtung für die Arbeit; den Sklaven allein war es
gestattet zu arbeiten, der freie Mann kannte nur körperliche Übungen und Spiele
des Geistes. Das war die Zeit eines Aristoteles, eines Phidias, eines
Aristophanes, die Zeit, da eine Handvoll Tapferer bei Marathon die Horden Asiens
vernichtete, welches Alexander bald darauf eroberte. Die Philosophen des
Altertums lehrten die Verachtung der Arbeit, diese Herabwürdigung des freien
Menschen; die Dichter besangen die Faulheit, diese Gabe der Götter:
»O Meliboea, Deus nobis haec otia fecit.« [5]
Christus lehrt in der Bergpredigt die Faulheit: »Sehet die Lilien auf dem Felde,
wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht, und doch sage ich Euch,
daß Salomo in all seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war.« [6]
Jehova, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das
erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle
Ewigkeit aus.
Welches sind dagegen die Rassen, denen die Arbeit ein organisches Bedürfnis ist?
Die Auvergnaten (*5); die Schotten, diese Auvergnaten der Britischen Inseln; die
Galizier, diese Auvergnaten Spaniens; die Pommern, diese Auvergnaten
Deutschlands; die Chinesen, diese Auvergnaten Asiens. Welches sind in unserer
Gesellschaft die Klassen, welche die Arbeit um der Arbeit willen lieben? Die
Kleinbauern und Kleinbürger, welche, die einen auf ihren Acker gebückt, die
anderen ihren Geschäften hingegeben, dem Maulwurf gleichen, der in seiner Höhle
herumwühlt, und sich nie aufrichtet, um mit Muße die Natur zu betrachten.
Und auch das Proletariat, die große Klasse, die alle Produzenten der
zivilisierten Nationen umfaßt, die Klasse, die, indem sie sich befreit, die
Menschheit von der knechtischen Arbeit befreien und aus dem menschlichen Tier
ein freies Wesen machen wird, das Proletariat hat sich, seine Instinkte
verleugnend und seine geschichtliche Aufgabe verkennend, von dem Dogma der
Arbeit verführen lassen. Hart und schrecklich war seine Züchtigung. Alles
individuelle und soziale Elend entstammt seiner Leidenschaft für die Arbeit.
Der Segen der Arbeit
Im Jahre 1770 erschien in London eine anonyme Schrift: »An essay on trade and
commerce« (Abhandlung über Gewerbe und Handel). Sie erregte zu ihrer Zeit ein
gewisses Aufsehen. Ihr Verfasser, ein großer Menschenfreund, erboste sich
darüber, daß »der englische Manufakturpöbel es sich in den Kopf gesetzt hat, daß
ihm als Engländer durch das Recht der Geburt das Vorrecht zukomme, freier und
unabhängiger zu sein als das Arbeitervolk in irgendeinem Land in Europa. Diese
Idee kann ihren Nutzen haben, wenn sie die Tapferkeit unserer Soldaten anspornt;
aber je weniger die Manufakturarbeiter davon haben, desto besser für sie selbst
und für den Staat. Arbeiter sollten sich nie für unabhängig von ihren
Vorgesetzten halten. Es ist außerordentlich gefährlich, Mobs in einem
kommerziellen Staat wie dem unseren, zu ermutigen, wo vielleicht sieben Achtel
der Gesamtbevölkerung Leute mit wenig oder keinem Einkommen sind. Die Kur wird
nicht vollständig sein, bis unsre industriellen Armen sich bescheiden, sechs
Tage für dieselbe Summe zu arbeiten, die sie heute in vier Tagen verdienen.«
So predigte man bereits hundert Jahre vor Guizot die Arbeit als einen Zügel für
die edlen menschlichen Leidenschaften. »Je mehr meine Völker arbeiten, um so
weniger Laster wird es geben«, schrieb Napoleon am 5. Mai 1807 aus Osterode.
»Ich bin die Autorität, ... und ich wäre geneigt zu verfügen, daß sonntags nach
vollzogenem Gottesdienst die Werkstätten wieder geöffnet werden und die Arbeiter
wieder ihrer Beschäftigung nachgehen sollen.«
Um die Faulheit auszurotten und um den Stolz und Unabhängigkeitssinn zu beugen,
schlug der Verfasser des Essay on trade vor, die Armen in ideale Arbeitshäuser
(ideal workhouses) einzusperren, die »Häuser des Schreckens sein müßten, in
denen man 14 Stunden pro Tag in der Weise arbeiten sollte, daß nach Abzug der
Mahlzeiten volle 12 Arbeitsstunden übrigbleiben«.
12 Arbeitsstunden pro Tag, das Ideal der Menschenfreunde und Moralisten des 18.
Jahrhunderts. Wie weit sind wir über dieses Ideal hinaus! Die modernen
Werkstätten sind ideale Zuchthäuser geworden, in welche man die Arbeitermassen
einsperrt, und in denen man nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und
Kinder zu zwölf- und vierzehnstündiger Zwangsarbeit verdammt! [7] Und die Kinder
der Helden der Französischen Revolution haben sich durch die Religion der Arbeit
so weit herabwürdigen lassen, daß sie 1848 das Gesetz, welches die Arbeit in den
Fabriken auf 12 Stunden täglich beschränkte, als eine revolutionäre
Errungenschaft entgegennahmen; sie proklamierten das Recht auf Arbeit als ein
revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat! (*6) Nur
Sklaven sind einer solchen Erniedrigung fähig. 20 Jahre kapitalistischer
Zivilisation müßte man aufwenden, um einem Griechen der antiken Heldenzeit eine
solche Entwürdigung begreiflich zu machen!
Und wenn die Leiden der Zwangsarbeit, die Foltern des Hungers, über das
Proletariat hereingebrochen sind, zahlreicher als die Heuschrecken der Bibel:
eben das haben sie selbst heraufbeschworen. Dieselbe Arbeit, welche die
Proletarier im Juni 1848 mit den Waffen in der Hand forderten, haben sie ihrer
Familie auferlegt; sie haben ihre Frauen, ihre Kinder den Fabrikbaronen
ausgeliefert. Mit eigener Hand haben sie ihre häuslichen Herde zerstört, mit
eigener Hand die Brüste ihrer Frauen trocken gelegt; diese Unglücklichen haben
schwangere und stillende Frauen in die Bergwerke und Fabriken geschickt, wo sie
sich schinden und die Nerven zerrütten; sie haben mit eigener Hand das Leben und
die Kraft ihrer Kinder untergraben.
Schande über die Proletarier! Wo sind jene Gevatterinnen hin mit frechem
Mundwerk, frischer Offenherzigkeit, dem Saufen zugeneigt, von denen unsere alten
Märchen und Erzählungen berichten? Wo sind die Übermütigen hin, die stets
herumtrippelnd, stets anbändelnd, stets singend, Leben säend, wenn sie sich dem
Genuss hingaben, ohne Schmerzen gesunde und kräftige Kinder gebaren? Heute haben
wir Frauen und Mädchen aus der Fabrik, verkümmerte Blumen mit blassem Teint, mit
Blut ohne Röte, mit krankem Magen und erschöpften Gliedmaßen! Ein gesundes
Vergnügen haben sie nie kennengelernt und sie werden nicht lustig erzählen
können, wie man sie eroberte. Und die Kinder? 12 Stunden Arbeit für die Kinder.
O Elend! Alle Jules Simon von der Akademie der moralischen Wissenschaften, alle
jesuitischen Germinys hätten kein den Geist der Kinder mehr verdummendes, ihr
Gemüt mehr verderbendes, ihren Körper mehr zerrüttendes Laster ersinnen können
als die Arbeit in der verpesteten Atmosphäre der kapitalistischen Werkstätten.
Unser Jahrhundert wird das Jahrhundert der Arbeit genannt; tatsächlich ist es
das Jahrhundert der Schmerzen, des Elends und der Verderbnis. Und doch haben die
bürgerlichen Ökonomen und Philosophen, von dem peinlich konfusen Auguste Comte
bis zum lächerlich klaren Leroy-Beaulieu, die bürgerlichen Schriftsteller, von
dem scharlatanhaften romantischen Viktor Hugo bis zum naiv albernen Paul de Kock,
samt und sonders ekelerregende Loblieder auf den Gott Fortschritt, den ältesten
Sohn der Arbeit, angestimmt. Hört man auf sie, so meint man, das Glück müsse auf
Erden herrschen, so sehr fühlt man schon seine Nähe. Sie durchwanderten
vergangene Jahrhunderte, durchwühlten den Staub und das Elend des Feudalismus,
um dessen Dunkelheit als Gegensatz neben die Freuden der Gegenwart zu stellen.
Wie sie uns gelangweilt haben, diese Gesättigten, diese Zufriedenen, jüngst noch
Teil der Dienerschaft der großen Herren, heute fett besoldete Schriftlakaien der
Bourgeoisie; haben sie uns nicht gelangweilt mit dem Landmann des Schönredners
La Bruyère? Nun, wir wollen ihnen das Bild der proletarischen Genüsse im
kapitalistischen Fortschrittsjahr 1840 zeigen, wie es von Einem von ihnen
geschildert wird, dem Dr. Villermé, Mitglied des Instituts, der 1848 zu jenem
Kreis von Gelehrten gehörte (Thiers, Cousin, Passy, der Akademiker Blanqui waren
darunter), die den Massen die Plattheiten der Ökonomie und der bürgerlichen
Moral beizubringen suchten.
Es ist das gewerblich entwickelte Elsaß, von dem der Dr. Villermé spricht, das
Elsaß der Kestner und Dollfus, dieser Blüten der Menschenliebe und des
industriellen Republikanismus. Aber bevor der Doktor das Bild des proletarischen
Elends vor uns ausbreitet, wollen wir erst hören, wie ein elsässischer
Manufakturist, Herr Th. Mieg vom Hause Dollfuß, Mieg und Cie, die Lage des
Handwerkers unter dem alten Gewerbesystem beschreibt:
»Vor 50 Jahren (1813, als die moderne Maschinenindustrie gerade entstand), waren
in Mülhausen alle Arbeiter Kinder des Landes, sie bewohnten die Stadt und die
umliegenden Dörfer und hatten fast jeder ein Häuschen und oft ein Stück Land.«
[8]
Das war das goldene Zeitalter des Arbeiters. Indes, damals hatte die Industrie
noch nicht die Welt mit ihren Baumwollstoffen überschwemmt und ihre Dollfus und
Koechlin noch nicht zu Millionären gemacht. Aber 25 Jahre später, als Villermé
das Elsaß besuchte, hatte der moderne Minotaurus, die kapitalistische Fabrik,
bereits das Land erobert; in seiner Gier nach menschlicher Arbeit hatte er die
Arbeiter aus ihrem Heim gerissen, um sie besser schinden, die Arbeit besser aus
ihnen herauspressen zu können. Zu tausenden liefen die Arbeiter dem Pfeifen der
Maschine nach.
»Eine große Zahl«, sagt Villermé, »fünftausend von siebzehntausend, waren
infolge der teueren Mieten gezwungen, sich in den Nachbardörfern einzumieten.
Einige wohnten 2¼ Wegstunden von der Fabrik entfernt, in der sie arbeiteten.«
»In Mülhausen, in Dornach, begann die Arbeit um fünf Uhr morgens und endete um
fünf Uhr abends, Sommer wie Winter ... Man muß sie jeden Morgen in die Stadt
kommen und jeden Abend abmarschieren sehen. Es gibt unter ihnen eine Menge
bleicher, magerer Frauen, die barfüßig durch den Schmutz laufen und wenn es
regnet oder schneit, mangels eines Regenschirms ihre Schürzen oder Unterröcke
über den Kopf ziehen, um Hals und Gesicht zu schützen; und eine noch
erheblichere Zahl nicht minder schmutziger und abgezehrter junger Kinder, in
Lumpen gehüllt, die ganz fettig sind von dem Öl, das aus den Maschinen auf sie
herabtropft, wenn sie arbeiten. Diese Kinder, welche die Undurchlässigkeit ihrer
Bekleidung besser vor dem Regen schützt, haben nicht einmal wie die Frauen einen
Korb mit Lebensmitteln für den Tag im Arm, sondern sie tragen in der Hand oder
versteckt unter ihrem Kittel oder wo sie sonst können, das Stück Brot, das sie
ernähren muß, bis sie wieder nach Hause zurückkehren.«
»So gesellt sich für diese Unglücklichen zu der Übermüdung durch einen übermäßig
langen Arbeitstag - denn er beträgt mindestens 15 Stunden - noch die durch die
langen, oft beschwerlichen Wege. Infolgedessen kommen sie übermüdet nach Hause
und gehen morgens, noch ehe sie ordentlich ausgeschlafen haben, fort, um
pünktlich zu sein, wenn die Fabrik geöffnet wird.«
Und über die Quartiere, in denen diejenigen sich einpferchen mußten, die in der
Stadt wohnten: »Ich habe in Mülhausen, in Dornach und in den umliegenden Häusern
jene elenden Zimmer gesehen, in denen zwei Familien schliefen, jede in einem
Winkel auf Stroh, welches auf dem Fußboden ausgebreitet lag und nur durch zwei
Bretter zusammengehalten wurde ... Das Elend, in welchem die Arbeiter der
Baumwollindustrie im Bezirk Oberrhein leben, ist so groß, daß während in den
Familien der Fabrikanten, Kaufleute, Werkdirektoren ungefähr 50 Prozent der
Kinder das 21. Jahr erreichen, derselbe Prozentsatz in den Familien der Weberei-
und Spinnereiarbeiter bereits vor vollendetem zweiten Jahr stirbt ...«
Über die Arbeit in den Werkstätten fügt Villermé hinzu: »Es ist keine Arbeit,
keine Aufgabe, es ist eine Tortur, und man halst dieselbe Kindern von 6 bis 8
Jahren auf ... Diese lange tägliche Qual ist es hauptsächlich, welche die
Arbeiter in den Baumwollspinnereien entkräftet.«
Und mit Bezug auf die Arbeitsdauer bemerkt Villermé, daß die Sträflinge in den
Zuchthäusern nur zehn Stunden, die Sklaven auf den Antillen nur neun Stunden
durchschnittlich arbeiteten, während in Frankreich, das die Revolution von 1789
gemacht, das die hochtrabenden Menschenrechte proklamiert hat, es Manufakturen
gibt, wo der Arbeitstag 16 Stunden dauert, von denen den Arbeitern 1½ Stunden
Eßpausen bewilligt werden. [9]
O jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie! O
grausige Geschenke ihres Götzen Fortschritt! Die
Menschenfreunde nennen diejenigen, die, um sich auf die leichte Art zu
bereichern, den Armen Arbeit geben, Wohltäter der Menschheit - es wäre
besser, die Pest zu säen, die Brunnen zu vergiften, als inmitten einer
ländlichen Bevölkerung eine Fabrik zu errichten. Führe die
Fabrikarbeit ein, und adieu Freude, Gesundheit, Freiheit - adieu
alles, was das Leben schön, was es wert macht, gelebt zu werden. [10]
Die Ökomomen werden nicht müde, den Arbeitern zuzurufen: Arbeitet, damit der
Nationalreichtum wächst! Und doch war es einer von ihnen, Destutt de Tracy, der
sagte: »Die armen Nationen sind es, wo das Volk sich wohlbefindet; bei den
reichen Nationen ist es gewöhnlich arm.«
Und sein Schüler Cherbuliez setzt hinzu: »Indem die Arbeiter zur Anhäufung
produktiver Kapitalien mitwirken, fördern sie selbst den Faktor, der sie früher
oder später eines Teils ihres Lohnes berauben wird.«
Aber von ihrem eigenen Gekrächz betäubt und verwirrt, erwidern die Ökonomen:
Arbeitet, arbeitet, um eures Wohlstandes willen! Und im Namen der christlichen
Milde predigt der Pfaffe der anglikanischen Kirche, Reverend Townsend: Arbeitet,
arbeitet Tag und Nacht; indem ihr arbeitet, vermehrt ihr eure Leiden, und euer
Elend enthebt uns der Aufgabe, euch gesetzlich zur Arbeit zu zwingen. Der
gesetzliche Arbeitszwang macht »zuviel Mühe, fordert zu viel Gewalt und erregt
zuviel Aufregung; der Hunger ist dagegen nicht nur ein friedlicher,
geräuschloser, unermüdlicher Antreiber, er bewirkt auch, als die natürlichste
Veranlassung zu Arbeit und Fleiß, die gewaltigste Anstrengung.«
Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den gesellschaftlichen Reichtum und
damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden,
noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das
unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.
Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Reden der Ökonomen Glauben schenken
und Leib und Seele dem Laster Arbeit ausliefern, stürzen sie die ganze
Gesellschaft in jene industriellen Krisen der Überproduktion, die den
gesellschaflichen Organismus in Zuckungen versetzen. Dann werden wegen Überfluß
an Waren und Mangel an Abnehmern die Werke geschlossen, und mit seiner
tausendsträhnigen Geißel peitscht der Hunger die arbeitende Bevölkerung. Betört
von dem Dogma der Arbeit sehen die Proletarier nicht ein, daß die Mehrarbeit,
der sie sich in der Zeit des angeblichen Wohlstandes unterzogen haben, die
Ursache ihres jetzigen Elends ist, und anstatt vor die Getreidespeicher zu
ziehen und zu schreien: »Wir haben Hunger, wir wollen essen! ... Allerdings
haben wir keinen roten Heller, aber wenn wir auch Habenichtse sind, wir sind es
gewesen, die das Korn eingebracht und die Trauben gelesen haben« - anstatt die
Lagerhäuser des Herrn Bonnet aus Jujurieux, Erfinder der industriellen Klöster,
zu belagern und zu rufen: »Hier, Herr Bonnet, sind eure Zwirnerinnen,
Hasplerinnen, Spinnerinnen und Weberinnen, sie zittern vor Kälte in ihren
geflickten Baumwollappen, daß es einen Stein erweichen könnte, und doch sind sie
es, welche die seidenen Roben der Mätressen der gesamten Christenheit gesponnen
und gewebt haben. Die Ärmsten konnten bei dreizehnstündiger Arbeit nicht an ihr
Äußeres denken, jetzt sind sie ohne Arbeit und können selber Staat machen in der
Seide, die sie hergestellt haben. Seit sie ihre Milchzähne verloren, haben sie
für euch Reichtümer geschaffen und selbst dabei verzichtet; jetzt haben sie
Pause und wollen daher auch ein wenig von den Früchten ihrer Arbeit genießen.
Auf, Herr Bonnet, bringt die Seide, Herr Harmel wird seine Musseline liefern,
Herr Pouyer-Quertier seine Stoffe, Herr Pinet seine Stiefeletten für ihre
lieben, kalten und feuchten Füßchen.- Von Kopf bis Fuß eingekleidet und
ausgelassen vor Freude, wird es euch Freude machen, sie anzuschauen. Nur keine
Ausflucht - ihr seid doch Menschenfreunde, nicht wahr, und Christen außerdem?
Stellt euren Arbeiterinnen die Vermögen zur Verfügung, die sie für euch an ihrem
eigenen Leib abgedarbt haben. Ihr seid Freunde des Handels? Fördert den Umsatz,
hier habt ihr Verbraucher wie gerufen; gebt ihnen unbegrenzten Kredit. Ihr müßt
dies ja auch gegenüber Geschäftsleuten tun, die ihr nie gesehen habt, die euch
absolut nichts geschenkt haben, nicht mal ein Glas Wasser. Eure Arbeiterinnen
werden bezahlen, wie sie es können: Wenn sie am Fälligkeitstag gambettisieren
und ihre Unterschrift platzen lassen, werdet ihr sie für bankrott halten, und
wenn sie nichts zu pfänden haben, werdet ihr verlangen, daß sie euch mit Gebeten
bezahlen: Sie werden euch ins Paradies schicken, besser noch als eure
wohlhabenden Pfaffen.« Statt in den Zeiten der Krise eine Verteilung der
Produkte und allgemeine Belustigung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor
Hunger die Köpfe an den Toren der Fabriken ein. Mit eingefallenen Wangen,
abgemagerten Körper überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen:
»Lieber Herr Chagot, bester Herr Schneider, geben Sie uns doch Arbeit, es ist
nicht der Hunger, der uns plagt, sondern die Liebe zur Arbeit!«- Und, kaum
imstande sich aufrechtzuerhalten, verkaufen die Elenden 12 bis 14 Stunden Arbeit
um die Hälfte billiger als zur Zeit, wo sie noch Brot im Korbe hatten. Und die
Herren industriellen Menschenfreunde benutzen die Arbeitslosigkeit, um noch
billiger zu produzieren.
Wenn die industriellen Krisen auf die Perioden der Überarbeit so notwendig
folgen wie die Nacht dem Tag und erzwungene Arbeitslosigkeit bei grenzenlosem
Elend nach sich ziehen, so bringen sie auch den unerbittlichen Bankrott mit
sich. Solange der Fabrikant Kredit hat, läßt er der Arbeitswut die Zügel
schießen, er pumpt und pumpt, um den Arbeitern den Rohstoff zu liefern. Er läßt
drauflosproduzieren, ohne zu bedenken, daß der Markt überfüllt wird und daß,
wenn er seine Waren nicht verkauft, er auch seine Wechsel nicht einlösen kann.
In die Enge getrieben, fleht er den Rothschild an, wirft sich ihm zu Füßen,
bietet ihm sein Blut an, seine Ehre. »Ein klein wenig Gold würde meinem Geschäft
gut tun«, antwortet der Rothschild, »Sie haben 20 000 Paar Strümpfe auf Lager,
die 20 Sous wert sind; ich nehme sie für 4 Sous.« Ist der Handel gemacht, so
verkauft Rothschild zu 6 und 8 Sous und steckt lebendige 100-Sousstücke ein, für
die er keinem etwas schuldet; der Fabrikant aber hat seinen Aufschub nur
erlangt, um desto gründlicher pleite zu gehen. Endlich tritt der allgemeine
Zusammenbruch ein und die Warenlager laufen über; da werden dann so viel Waren
aus dem Fenster herausgeworfen, daß man gar nicht begreifen kann, wie sie zur
Tür hereingekommen sind. Nach Hunderten von Millionen beziffert sich der Wert
der zerstörten Waren; im vorigen Jahrhundert verbrannte man sie oder warf sie
ins Wasser. [11]
Bevor sie sich aber zu dieser Maßregel entschließen, durchlaufen die Fabrikanten
die Welt auf der Suche nach Absatzmärken für die angehäuften Waren; sie
verlangen von ihrer Regierung, den Kongo anzugliedern, Tonking zu erobern, die
Mauern Chinas zusammenzuschießen, nur damit sie ihre Baumwollartikel absetzen
können. In den letzten Jahrhunderten kämpften England und Frankreich ein Duell
auf Leben und Tod, wer von ihnen das ausschließliche Vorrecht haben werde, in
Amerika und Indien zu verkaufen. Tausende junger, kräftiger Männer haben in den
Kolonialkriegen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrem Blut das Meer
gefärbt.
Wie an Waren, so herrscht auch Überfluß an Kapitalien. Die Finanziers wissen
nicht mehr, wo dieselben unterbringen; so machen sie sich dann auf, bei jenen
glücklichen Völkern, die sich noch Zigaretten rauchend in der Sonne räkeln,
Eisenbahnen zu bauen, Fabriken zu errichten und den Fluch der Arbeit zu
importieren. Und dieser französische Kapitalexport endet eines schönen Tages mit
diplomatischen Verwicklungen: in Ägypten wären sich Frankreich, England und
Deutschland beinahe in die Haare geraten, um sich zu vergewissern, wessen
Wucherer zuerst bezahlt werden, und mit Kriegen wie in Mexiko, wo man
französische Soldaten hinschickte, die Rolle von Gerichtsvollziehern zur
Eintreibung fauler Schulden zu spielen. [12]
Diese persönlichen und gesellschaftlichen Leiden, so groß und unzählbar sie auch
sind, so ewig sie auch erscheinen mögen, werden verschwinden wie die Hyänen und
die Schakale beim Herannahen des Löwen, sobald das Proletariat sagen wird: »Ich
will es«. Aber damit ihm seine Kraft bewußt wird, muß das Proletariat die
Vorurteile der christlichen, ökonomischen und liberalistischen Moral mit Füßen
treten; es muß zu seinen natürlichen Instinkten zurückkehren, muß die
Faulheitsrechte ausrufen, die tausendfach edler und heiliger sind als die
schwindsüchtigen Menschenrechte, die von den übersinnlichen Anwälten der
bürgerlichen Revolution wiedergekäut werden; es muß sich zwingen, nicht mehr als
drei Stunden täglich zu arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht müßig zu
gehen und flott zu leben.
Bis hierher war meine Aufgabe leicht; ich hatte nur wirkliche, uns allen leider
nur zu bekannte Übel zu schildern. Aber das Proletariat zu überzeugen, daß die
zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die
schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit
erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Körper
nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise geregelt und auf ein Maximum
von drei Stunden täglich beschränkt wird - das ist eine Aufgabe, die meine
Kräfte übersteigt. Nur Ärzte, Fachleute für Gesundheitsvorsorge und
kommunistische Ökonomen können sie unternehmen. In den nachfolgenden Seiten
werde ich mich auf den Nachweis beschränken, daß angesichts der modernen
Produktionsmittel und ihrer unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeiten die
übertriebene Leidenschaft der Arbeiter für die Arbeit gebändigt und es ihnen zur
Pflicht gemacht werden muß, die Waren, die sie produzieren, auch zu verbrauchen.
Was der Überproduktion folgt
Ein griechischer Dichter aus der Zeit Ciceros, Antipatros, besang die Erfindung
der Wassermühle (zum Mahlen des Getreides) als Befreierin der Sklavinnen und
Errichterin des goldenen Zeitalters:
"Schonet der mahlenden Hand, o Müllerinnen, und schlafet sanft! Es
verkündet der Hahn euch den Morgen umsonst! Däo hat die Arbeit der
Mädchen den Nymphen befohlen, und jetzt hüpfen sie leicht über die
Räder dahin, daß die erschütterten Achsen mit ihren Speichen sich
wälzen, und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins. Laßt uns
leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben arbeitslos uns
freun, welche die Göttin uns schenkt.« (*12)
Ach! Die Zeit der Muße, die der heidnische Dichter verkündete, ist nicht
gekommen; die blinde, perverse und mörderische Arbeitssucht hat die Maschine aus
einem Befreiungsinstrument in ein Instrument zur Knechtung freier Menschen
umgewandelt: die Produktionskraft der Maschine verarmt die Menschen.
Eine gute Arbeiterin verfertigt auf dem Handklöppel gerade fünf Maschen in der
Minute; gewisse Klöppelmaschinen fertigen in derselben Zeit dreißigtausend. Jede
Minute der Maschine ist somit gleich hundert Arbeitsstunden der Arbeiterin, oder
vielmehr, jede Minute Maschinenarbeit ermöglicht der Arbeiterin zehn Tage Ruhe.
Was für die Spitzenindustrie gilt, gilt mehr oder weniger für alle durch die
moderne Mechanik umgestalteten Industrien. Was sehen wir aber? Je mehr sich die
Maschine vervollkommnet und mit beständig wachsender Schnelligkeit und Präzision
die menschliche Arbeit verdrängt, verdoppelt der Arbeiter noch seine
Anstrengungen, anstatt seine Ruhe entsprechend zu vermehren, als wollte er mit
den Maschinen wetteifern. O törichte und mörderische Konkurrenz!
Um der Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine freie Bahn zu verschaffen, haben
die Proletarier die weisen Gesetze, welche die Arbeit der Handwerker der alten
Zünfte beschränkten, abgeschafft, die Feiertage unterdrückt. [13] Denkt ihr, daß
die Arbeiter, als sie damals von sieben Tagen nur fünf arbeiteten, nur von Luft
und frischem Wasser gelebt hätten, wie die verlogenen Ökonomen uns vorerzählen?
So ein Quatsch! Sie hatten Mußezeit, um die irdischen Freuden zu kosten, um zu
lieben und zu scherzen, um vergnügt zu Ehren des lustigen Gottes des Müßiggangs
Tafel zu halten. Das grämliche, im Protestantismus verheuchelte England hieß
damals das »fröhliche England« (Merry England). Rabelais, Quevado, Cervantès,
die unbekannten Verfasser der Schelmenromane lassen uns das Wasser im Mund
zusammenlaufen mit ihren Schilderungen jener monumentalen Schlemmereien [14],
die man sich damals zwischen zwei Schlachten und zwei Verheerungen schmecken
ließ und bei denen »an nichts gespart wurde«. Jordaens und die niederländische
Schule haben sie uns auf ihren lebenslustigen Gemälden dargestellt. Erhabene
Riesenmägen, was ist aus euch geworden? Erhabene Geister, die ihr das ganze
menschliche Denken umfaßtet, wo seid ihr hin? Wir sind durch und durch verzwergt
und entartet. Die Entbehrungen, die Kartoffel, gefärbter Wein und der preußische
Schnaps haben in raffinierter Verbindung mit Zwangsarbeit unsere Körper
erschlafft und unseren Geist verkleinert. Und während der Mensch seinen Magen
zusammenschnürt und die Produktivität der Maschine wächst, wollen uns die
Ökonomen die Malthussche Theorie, die Religion der Enthaltsamkeit und das Dogma
der Arbeit predigen? Man sollte ihnen lieber die Zunge ausreißen und den Hunden
zum Fraß vorwerfen.
Da jedoch die Arbeiterklasse in ihrer Einfalt sich den Kopf hat verdrehen lassen
und sich mit ihrem kindlichen Ungestüm blindlings in Arbeit und Enthaltsamkeit
gestürzt hat, so sieht sich die Kapitalistenklasse zu erzwungener Faulheit und
Üppigkeit, zur Unproduktivität und Überkonsum verurteilt. Und wenn die
Überarbeit des Proletariers seinen Körper abrackert und seine Nerven zerrüttet,
so bringt sie dem Bourgeois nicht weniger Leiden.
Die Enthaltsamkeit, zu welcher sich die produktive Klasse hat verurteilen
lassen, macht es der Bourgeoisie zur Pflicht, sich der Überkonsumtion der zuviel
verfertigten Produkte zu widmen. Zu Anfang der kapitalistischen Produktion, vor
ein oder zwei Jahrhunderten, war der Bourgeois noch ein ordentlicher Mann mit
vernünftigen und friedlichen Sitten: er begnügte sich mit einer Frau, wenigstens
beinahe, er trank nur, wenn er Durst, und aß nur, wenn er Hunger hatte. Er
überließ den Höflingen und Hofdamen die adligen Tugenden der Ausschweifung.
Heute gibt es keinen Sohn eines Emporkömmlings, der nicht glaubt, er müsse die
Prostitution fördern und seinen Körper verquecksilbern, um der Schufterei, der
sich die Arbeiter in den Quecksilberminen aussetzen, einen Sinn zu geben. Es
gibt keinen Bourgeois, der sich nicht mit Trüffelkapaunen und mit
herangeschafftem edlen Wein vollstopft, um die Geflügelzüchter von La Flèche und
die Winzer des Bordelais zu fördern. Bei diesem Geschäft geht der Körper schnell
zugrunde, die Haare fallen aus, das Zahnfleisch geht zurück, der Rumpf
deformiert, der Bauch schwillt an, die Brust wird asthmatisch, die Bewegungen
werden schwerfälliger, die Gelenke steif, die Glieder gichtig. Andere, die zu
schwach sind, um die Anstrengung der Ausschweifung zu ertragen, aber mit der
Neigung zu Klugscheißerei ausgestattet, dörren ihr Gehirn aus, wie die Garnier
von der politischen Ökonomie oder die Acollas von der juristischen Philosophie,
und hecken dickbändige, schlafsuchterregende Bücher aus, um die Mußestunden von
Schriftsetzern und Buchdruckern auszufüllen.
Die Frauen von Welt führen ein Märtyrerleben. Um die feenhaften Garderoben, bei
deren Herstellung sich die Schneiderinnen zugrunde richten, zu probieren und zur
Geltung zu bringen, schlüpfen sie von morgens bis abends von einer Robe in die
andere; stundenlang liefern sie ihren hohlen Kopf Haarkünstlern aus, die um
jeden Preis ihre Leidenschaft für die Aufschichtung falscher Haare befriedigen
wollen. Eingeschnürt in Korsetts, die Füße in engen Stiefeletten, den Busen
entblößt, daß ein Pionier darüber rot werden könnte, drehen sie sich die ganze
Nacht hindurch auf ihren Wohltätigkeitsbällen, um einige Sous für die Armen
zusammenzubringen. O ihr Heiligen!
Um ihrer doppelten gesellschaftlichen Funktion als Nichtproduzent und
Überkonsument nachzukommen, mußte die Bourgeoisie nicht nur ihren bescheidenen
Bedürfnissen Zwang antun, sich die ihr seit zwei Jahrhunderte zur Gewohnheit
gewordene Arbeitsamkeit abgewöhnen und sich einem zügellosen Luxus, dem
Sich-vollstopfen mit Trüffeln, sowie syphilitischen Ausschweifungen ergeben, sie
mußte auch eine enorme Masse Menschen der produktiven Arbeit entziehen, um sich
Mitesser zu verschaffen.
Einige Zahlen mögen beweisen, wie kollosal dieses Brachlegen von produktiven
Kräften ist. Nach der Volkszählung von 1861 zählte die Gesamtbevölkerung von
England und Wales 20 066 244 Personen, 9 776 259 männlich und 10 289 965
weiblich. Zieht man hiervon ab, was zu alt oder zu jung zur Arbeit, die Frauen,
unproduktive Jugendliche und Kinder, dann die ideologischen Berufe, wie
Regierung, Polizei, Kirche, Stadtverwaltung, Armee, Prostituierte, Künstler,
Wissenschaftler etc., ferner alle, deren ausschließliches Geschäft der Verzehr
fremder Arbeit in der Form von Grundrente, Zinsen, Dividenden etc., so bleiben
in runder Zahl acht Millionen beiderlei Geschlechts und der verschiedenen
Altersstufen, mit Einschluß sämtlicher in der Produktion, dem Handel, der Finanz
etc. tätigen Kapitalisten. Von diesen acht Millionen kommen auf:
Ackerbauarbeiter (mit Einschluß der Hirten und bei Pächtern wohnenden
Ackersknechte und Mägde) 1 098 261 Arbeiter in Baumwoll-, Woll-, Flachs-, Hanf-,
Seidefabriken und in Strickereien 642 607 Arbeiter in Kohlen- und
Metallbergwerken 565 835 Arbeiter in Metallwerken (Hochöfen, Walzwerke etc.) 396
998 Dienende Klasse 1 208 648
»Rechnen wir die Beschäftigten in allen Textilfabriken zusammen mit denen der
Kohlen- und Metallbergwerke, so erhalten wir 1 208 442; rechnen wir sie zusammen
mit dem Personal aller Metallwerke und Manufakturen, so ist die Gesamtzahl 1 039
605, beidemal kleiner als die Zahl der modernen Haussklaven. Welch erhebendes
Resultat der kapitalistisch angewandten Maschinerie!« [15]
Zu dieser ganzen dienenden Klasse, deren Zahl den Entwicklungsgrad der
kapitalistischen Zivilisation widergibt, müssen wir die zahlreiche Klasse der
Unglücklichen hinzurechnen, die sich ausschließlich der Befriedigung der
kostspieligen und belanglosen Bedürfnisse der reichen Klassen widmen:
Diamantschleifer, Spitzenarbeiterinnen, Luxusstickerinnen, Galanteriearbeiter,
Modeschneider, Ausstatter der Lusthäuser etc. [16]
Einmal in der absoluten Faulheit versunken und von dem erzwungenen Genuß
demoralisiert, gewöhnte sich die Bourgeoisie trotz der Übel, welche ihr daraus
erwachsen, bald an das neues Leben. Mit Schrecken sah sie jeder Änderung der
Dinge entgegen. Angesichts der jammervollen Lebensweise, der sich die
Arbeiterklasse resigniert unterwarf, und der organischen Verkümmerung, welche
die unnatürliche Arbeitssucht zur Folge hat, steigert sich noch ihr Widerwille
gegen jede Auferlegung von Arbeitsleistungen und gegen jede Einschränkung ihrer
Genüsse.
Und just zu dieser Zeit setzten es sich die Proletarier, ohne der
Demoralisierung, welche sich die Bourgeoisie als eine gesellschaftliche Pflicht
auferlegt hatte, im geringsten zu achten, in den Kopf, die Kapitalisten
zwangsweise zur Arbeit anzuhalten. In ihrer Einfalt nahmen sie die Theorien der
Ökonomen und Moralisten über die Arbeit ernst und schickten sich an, die Praxis
derselben den Kapitalisten zur Pflicht zu machen. Das Proletariat proklamierte
die Parole: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Im Jahre 1831 erhob
sich Lyon für »Blei oder Arbeit«; die Juni-Insurgenten von 1848 forderten das
Recht auf Arbeit; und die Förderierten vom März bezeichneten ihren Aufstand als
die Revolution der Arbeit.
Auf diese Ausbrüche barbarischer Wut auf bürgerliches Wohlleben und bürgerliche
Faulheit konnten die Kapitalisten nur mit gewaltsamer Unterdrückung antworten;
aber wenn sie auch diese revolutionären Ausbrüche zu unterdrücken vermochten, so
wissen sie doch, daß selbst in dem Meere des vergossenen Blutes die absurde Idee
des Proletariats, den Müßiggängern und Satten Arbeit aufzuerlegen, nicht
ertränkt worden ist; und nur um dieses Unheil abzuwenden, umgeben sie sich mit
Polizisten, Behörden und Kerkermeistern, die in einer mühseligen Unproduktivität
erhalten werden. Heute kann niemand mehr über den Charakter der modernen Heere
im unklaren sein; sie werden nur deshalb auf Dauer aufrechterhalten, um den
»inneren Feind« niederzuhalten. So sind die Festungen von Paris und Lyon nicht
gebaut worden, um die Stadt nach außen zu verteidigen, sondern um Revolten zu
unterdrücken. Ein Beispiel, gegen das es keinen Widerspruch gibt, ist Belgien,
dieses Schlaraffenland des Kapitalismus. Seine Neutralität ist von den
europäischen Mächten verbürgt, und trotzdem ist seine Armee, im Verhältnis zur
Bevölkerungszahl, eine der stärksten. Die glorreichen Schlachtfelder der
tapferen belgischen Armee aber sind die Ebenen des Borinage und von Charleroi;
in dem Blute von unbewaffneten Bergleuten und Arbeitern pflegt der belgische
Offizier seinen Degen zu taufen und Abzeichen zu sammeln. Die europäischen
Nationen haben keine Volks-, sondern Söldnerarmeen zum Schutze der Kapitalisten
gegen die Wut des Volkes, das diese zu zehnstündiger Gruben- und Fabrikarbeit
verdammen will.
Die Arbeiterklasse hat, indem sie sich den Bauch zusammenschnürt, den Bauch der
Bourgeoisie über alles Maß entwickelt, sie zu Überkonsum verdammt.
Um sich diese mühselige Arbeit zu erleichtern, hat die Bourgeoisie eine Masse
Leute von der Arbeiterklasse abgezogen und sie, die bedeutend höherstehend sind
als jene, die in der nützlichen Produktion verblieben, ihrerseits zu
Unproduktivität und Überkonsum verdammt. Aber so groß dieses Heer von unnützen
Mäulern, so unersättlich seine Gefräßigkeit auch ist, es reicht immer noch
nicht, um alle Waren zu konsumieren, welche die durch das Dogma von der Arbeit
verdummten Arbeiter wie Besessene erzeugen, ohne sie konsumieren zu wollen, ohne
sich darum zu kümmern, ob sich überhaupt Leute finden, die sie konsumieren.
Und so besteht, angesichts der doppelten Verrücktheit der Arbeiter, sich durch
Überarbeit umzubringen und in Entbehrungen dahinzuvegetieren, das große Problem
der kapitalistischen Produktion nicht darin, Produzenten zu finden und ihre
Kräfte zu verzehnfachen, sondern Konsumenten zu entdecken, ihren Appetit zu
reizen und bei ihnen künstliche Bedürfnisse zu wecken.
Und da die europäischen Arbeiter, vor Hunger und Kälte zitternd, sich weigern,
die Stoffe, die sie weben, zu tragen, den Wein, den sie ernten, zu trinken, so
sehen sich die armen Fabrikanten genötigt, wie Wiesel in ferne Länder zu laufen
und dort Leute zu suchen, die sie tragen und trinken. Hunderte von Millionen und
Milliarden sind es, welche Europa jährlich nach allen vier Enden der Welt zu
Völkern exportiert, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. [17] Die
erforschten Erdteile sind ihnen nicht groß genug, daher brauchen sie
jungfräuliches Land. Die Fabrikanten Europas träumen Tag und Nacht von Afrika,
von der Sahara, von der Sudanbahn; mit angestrengter Aufmerksamkeit folgen sie
dem Vordringen der Livingstone, der Stanley, der Du Chaillu, der de Brazza;
offenen Mundes lauschen sie den wunderverheißenden Erzählungen dieser mutigen
Reisenden. Welch unbekannte Wunder verbirgt nicht dieser »schwarze Kontinent«!
Ganze Felder sind mit Elefantenzähnen besät, Flüsse von Kokosöl tragen Goldsand
dahin, Millionen von schwarzen Hintern, nackt wie der Schädel von Dufaure oder
Girardin, warten auf europäische Baumwolle, um Anstand zu erlernen, auf
Schnapsflaschen und Bibeln, um die Tugenden der Zivilisation kennenzulernen.
Aber alles das reicht nicht: die Bourgeois, die sich fettfressen, die
Dienstbotenklasse, die zahlreicher ist als die produktive Klasse, fremde und
barbarische Völker, die man mit europäischen Waren vollstopft - nichts, nichts
vermag die Berge der Produktion zu erschöpfen, die sich höher und gewaltiger als
die Pyramiden Ägyptens auftürmen: die Produktivität der europäischen Arbeiter
trotzt allem Konsum, aller Verschleuderung. Die Fabrikanten wissen in ihrer
Verwirrung nicht mehr, wo den Kopf lassen, sie können nicht Rohstoffe genug
auftreiben, um die unmäßige, kaputte Leidenschaft ihrer Arbeiter für die Arbeit
zu befriedigen. In unseren Wollfabriken wird aus schmutzigen und halbverfaulten
Lumpen ein Tuch hergestellt, das Renaissance genannt wird und so lange hält wie
Wahlversprechen. Anstatt der Seidenfaser ihre Einfachheit und natürliche
Geschmeidigkeit zu lassen, überläd man sie in Lyon mit Mineralsalzen, die ihr
Gewicht geben, sie aber brüchig und wenig brauchbar macht. Alle unsere Produkte
sind verfälscht, um ihren Absatz zu erleichtern und ihre Haltbarkeit zu
verkürzen. Unsere Epoche sollte das Zeitalter der Fälschung genannt werden, wie
die ersten Epochen der Menschheit die Namen Steinzeit, Bronzezeit nach dem
Charakter ihrer Produktion erhielten. Dummköpfe beschuldigen unsere frommen
Fabrikanten des Betrugs, während sie in Wahrheit nur der Gedanke beseelt, den
Arbeitern, die sich nicht in ein Leben mit verschränkten Armen fügen können,
Arbeit zu geben. Diese Fälschungen, die einzig und allein menschlichen
Rücksichten entspringen, jedoch den Fabrikanten, die sie praktizieren, famose
Profite eintragen, sind zwar für die Qualität der Waren von verderblichster
Wirkung, sind zwar eine unerschöpfliche Quelle von Vergeudung menschlicher
Arbeit, aber sie kennzeichnen doch die geniale Menschenliebe der Bourgeois und
die schreckliche Perversität der Arbeiter, die, um ihre lasterhafte Arbeitssucht
zu befriedigen, die Herren Industriellen veranlassen, die Stimme ihres Gewissens
zu ersticken und sogar die Regeln der kaufmännischen Ehrbarkeit zu verletzen.
Und doch, trotz aller Überproduktion, trotz Warenfälschung überfüllen die
Arbeiter in unzählbarer Menge den Markt und rufen flehendlich: Arbeit! Arbeit!
Ihre Überzahl müßte sie veranlassen, ihre Leidenschaft zu zügeln - statt dessen
treibt sie sie zur Raserei. Wo sich nur Aussicht auf Arbeit bietet, darauf
stürzen sie sich; sie verlangen 12, 14 Stunden, um sich richtig ausleben zu
können; und tags darauf liegen sie wieder auf dem Pflaster und wissen nicht, wie
ihr Laster befriedigen. Jahr für Jahr treten in allen Industrien mit der
Regelmäßigkeit der Jahreszeiten Stockungen ein; auf die für den Körper
mörderische Überarbeit folgt für ein bis zwei Monate absolute Ruhe, und - keine
Arbeit, kein Bissen. Wenn nun das Arbeitslaster im Herzen der Arbeiter teuflisch
eingewurzelt ist, wenn es alle anderen natürlichen Instinkte erstickt, und wenn
andererseits die von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge notwendigerweise
durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs
Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber
gleichmäßig auf die zwölf Monate verteilen, und jeden Arbeiter zwingen, sich das
Jahr über täglich mit sechs oder fünf Stunden zu begnügen, anstatt sich während
sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben? Wenn ihnen ihr
täglicher Arbeitsanteil gesichert ist, werden die Arbeiter nicht mehr
miteinander eifersüchteln, sich nicht mehr die Arbeit aus der Hand und das Brot
vom Mund wegreißen; dann werden sie, nicht mehr an Leib und Seele erschöpft,
anfangen, die Tugenden der Faulheit zu üben.
Was die Arbeiter, verdummt durch ihr Laster, nicht einsehen wollen: man muß, um
Arbeit für alle zu haben, sie rationieren wie Wasser auf einem Schiff in Not.
Das haben sogar Industrielle im Interesse der kapitalistischen Ausbeutung selbst
verlangt: eine gesetzliche Einschränkung der Arbeitszeit. Im Jahre 1860 erklärte
einer der größten Fabrikanten des Elsaß Herr Bourcart aus Gebweiler vor der
gewerblichen Unterrichtskommision, daß »die Arbeit von 12 Stunden übermäßig ist
und auf elf Stunden reduziert werden, daß sonnabends die Arbeit um zwei Uhr
aufhören sollte. Ich empfehle diese Maßregel, obwohl sie auf den ersten Blick zu
teuer scheint, wir haben sie in unseren Fabriken seit vier Jahren versucht und
stehen uns gut dabei; die Durchschnittsproduktion ist gestiegen, anstatt zu
fallen.«In seiner Studie Die Maschinen zitiert Herr F. Passy folgenden Brief
eines belgischen Großindustriellen, eines Herrn Ottevaere: »Obwohl unsere
Maschinen dieselben sind wie die der englischen Spinnereien, produzieren sie
doch nicht so viel wie sie sollten, und wie dieselben Maschinen in England
produzieren, trotzdem dort täglich zwei Stunden weniger gearbeitet wird ... Wir
arbeiten zwei volle Stunden zuviel; ich bin überzeugt, daß wenn wir statt 13
Stunden nur elf arbeiteten, wir ebenso viel und infolgedessen wirtschaftlicher
produzieren würden.«
Aus anderer Quelle bestätigt Herr Leroy-Beaulieu, daß ein großer belgischer
Manufakturist die Beobachtung gemacht hat, daß die Wochen, in welche ein
Feiertag fällt, keine geringere Produktion aufweisen als die gewöhnlichen
Wochen.« [18]
Was das durch die Moralisten versimpelte Volk nicht gewagt hat, hat eine
aristokratische Regierung gewagt. Unbekümmert um die hochmoralischen und
wirtschaftlichen Einwände der Ökonomen, die wie Unglücksraben krächzten, daß die
Fabrikarbeit um eine Stunde herabsetzen den Ruin der englischen Industrie
herbeiführen hieße, hat die englische Regierung die zehnstündige Arbeitszeit
gesetzlich eingeführt und streng überwacht; und nach wie vor ist England das
erste Industrieland der Welt.
Die große Erfahrung Englands liegt vor, die Erfahrung einiger intelligenter
Kapitalisten liegt vor: sie beweisen unwiderlegbar, daß, um die menschliche
Produktion zu steigern, man die Arbeitszeit herabsetzen und die Zahl der
bezahlten Feiertage vermehren muß, und das französische Volk sieht es immer noch
nicht ein. Aber wenn eine jämmerliche Verkürzung um zwei Stunden die englische
Produktion um ein Drittel in zehn Jahren erhöht hat [19], welchen
schwindelerregenden Vormarsch würde eine gesetzliche Verringerung des
Arbeitstages auf drei Stunden für die französische Produktion bedeuten? Können
die Arbeiter denn nicht begreifen, daß dadurch, daß sie sich mit Arbeit
überbürden, sie ihre und ihrer Nachkommenschaft Kräfte erschöpfen, daß sie,
abgenutzt, vorzeitig arbeitsunfähig werden, daß sie, aufgesogen und abgestumpft
von einem einzigen Laster, nicht mehr Mensch sind, sondern menschliche Wracks,
daß sie alle schönen Anlagen in sich abtöten, nur der rasenden Arbeitssucht
zuliebe?
Ach, wie Papageien plappern sie die Lektionen der Ökonomen nach: »Arbeiten wir,
arbeiten wir, um den Nationalreichtum zu vermehren!« O ihr Idioten! Eben weil
ihr zuviel arbeitet, entwickelt sich die industrielle Technik zu langsam. Laßt
euer Geschrei und hört einen Ökonomen - es ist kein großes Licht, es ist nur
Herr L. Reybaud, den wir glücklicherweise vor einigen Monaten verloren haben:
»Im Allgemeinen richtet sich die Revolution in den Arbeitsmethoden nach den
Bedingungen der Arbeitskräfte. Solange die Arbeitskräfte ihre Dienste billig
anbieten, wendet man sie im Übermaße an; werden sie teurer, so sucht man sie zu
sparen.« [20]
Um die Kapitalisten zu zwingen, ihre Maschinen aus Holz und Eisen zu
vervollkommnen, muß man die Löhne der Maschinen aus Fleisch und Blut erhöhen und
die Arbeitszeit derselben verringern. Beweise dafür? Man kann sie zu hunderten
erbringen. In der Spinnerei wurde die automatische Spinnmaschine (selfacting
mule) in Manchester erfunden und angewendet, weil die Spinner sich weigerten,
solange zu arbeiten wie früher.
In Amerika bemächtigt sich die Maschine aller Zweige der Agrarproduktion, von
der Butterfabrikation bis zum Getreidejäten. Warum? Weil die Amerikaner, frei
und faul, lieber tausend Tode sterben möchten, als das Viehleben eines
französischen Bauern zu führen. Die im glorreichen Frankreich so mühsame, mit so
vielem Bücken verbundene Landarbeit ist im Westen Amerikas ein angenehmer
Zeitvertreib in freier Luft, den man sitzend genießt und dabei gemächlich seine
Pfeife raucht.
Ein neues Lied, ein besseres Lied
Wenn die Verkürzung der Arbeitszeit der gesellschaftlichen Produktion neue
mechanische Kräfte zuführt, so wird die Verpflichtung der Arbeiter, ihre
Produkte auch zu verzehren, eine enorme Vermehrung der Arbeitskräfte zur Folge
haben. Die von ihrer Aufgabe, Allerweltsverbraucher zu sein, erlöste Bourgeoisie
wird nämlich schleunigst die Menge von Soldaten, Beamten, Dienern, Kupplern
usw., die sie der nützlichen Arbeit entzogen hatte, freigeben. Infolgedessen
wird der Arbeitsmarkt so überfüllt sein, daß man ein eisernes Gesetz haben muß,
das die Arbeit verbietet; es wird unmöglich sein, für diesen Schwarm bisher
unproduktiver Menschen Verwendung zu finden, denn sie sind zahlreicher als die
Heuschrecken. Dann wird man an die denken, die für den kostspieligen und
nichtsnutzigen Bedarf dieser Leute aufzukommen hatten. Wenn keine Lakaien und
Generäle mehr geschmückt, keine verheirateten oder unverheirateten
Prostituierten mehr in Spitzen gehüllt, keine Kanonen mehr gegossen und keine
Paläste mehr eingerichtet werden müssen, dann wird man mittels drakonischer
Gesetze die Schnick-Schnack-, Spitzen-, Eisen-, Bau- Arbeiter und -Arbeiterinnen
zu gesundem Wassersport und Tanzübungen anhalten, um ihr Wohlbefinden wieder
herzustellen und die menschliche Art zu verbessern. Von dem Augenblick an, wo
die europäischen Produkte am Ort verbraucht und nicht mehr zum Teufel geschickt
werden, werden auch die Seeleute, die Verladearbeiter und die Fahrer anfangen,
Däumchen drehen zu lernen. Dann werden die glücklichen Südseeinsulaner sich der
freien Liebe hingeben können, ohne die Fußtritte der zivilisierten Ankömmlinge
und die Predigten der europäischen Moral zu fürchten.
Noch mehr. Um für alle Nichtsnutze der heutigen Gesellschaft Arbeit zu finden,
und die immer weitere Vervollkommnung der Arbeitsmittel zu fördern, wird die
Arbeiterklasse ihrem Hang zur Enthaltsamkeit, gleich der Bourgeoisie, Gewalt
antun und ihre Konsumfähigkeit unbegrenzt steigern müssen. Anstatt täglich ein
oder zwei Unzen zähes Fleisch zu essen, wenn sie überhaupt welches ißt, wird sie
saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund essen; statt katholischer als der
Papst bescheiden einen schlechten Wein zu trinken, wird sie aus großen,
randvollen Gläsern Bordeaux und Burgunder trinken, der keiner industriellen
Taufe unterzogen ist, und das Wasser dem Vieh überlassen.
Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, den Kapitalisten zehn Stunden
Schmiede oder Raffinerie aufzuerlegen - das ist der große Fehler, die Ursache
der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß
man die Arbeit. Den Rothschilds, den Says wird erlaubt werden, den Beweis zu
liefern, daß sie ihr ganzes Leben lang vollkommene Nichtstuer gewesen sind; und
wenn sie versprechen, trotz des allgemeinen Zuges zur Arbeit, als vollkommene
Nichtstuer weiterzumachen, werden sie auf die Rechnung gesetzt und erhalten
jeden Morgen auf dem zuständigen Rathaus ein 20-Francstück als Taschengeld. Die
gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. Die von Zinsen Lebenden und die
Kapitalisten werden die allerersten sein, die sich zur Partei des Volkes
schlagen, wenn sie einmal überzeugt sind, daß man ihnen nichts Böses will,
sondern im Gegenteil sie von der Arbeit befreien will, Überkonsument und
Vergeuder zu sein, mit der sie seit ihrer Geburt belastet sind. Diejenigen
Bourgeois, die nicht in der Lage sind, ihren Titel als Nichtsnutz nachzuweisen,
wird man ihren Instinkten nachgehen lassen: es gibt genügend abstoßende Berufe,
um sie unterzubringen. Dufaure würde die öffentlichen Latrinen reinigen und
Gallifet die räudigen Schweine und aufgeblähten Pferde abstechen, die Mitglieder
des Gnadenausschußes werden, ins Gefängnis Poissy geschickt, das Vieh
anzumerken, das zum Schlachten reif ist, die Senatoren, die am Beerdigungspomp
hängen, werden Leichenträger spielen. Für andere wird man Berufe finden, die
ihrer Intelligenz entsprechen. Lorgeril, Borglie würden Champagnerflaschen
verkorken, doch wird man ihnen einen Maulkorb vorbinden, damit sie sich nicht
vollsaufen. Ferry, Freycinet, Tirard würden Wanzen und Ungeziefer in Ministerien
und anderen öffentlichen Häusern jagen. Allerdings müßten diese Leute außer
Reichweite der Bürger gehalten werden, aus Angst vor ihren schlechten
Gewohnheiten.
Aber bittere und lange Rache wird man an den Moralisten nehmen, welche die
menschliche Natur verdreht haben, an den Betbrüdern, Heuchlern, Scheinheiligen
»und dem anderen derartigen Gesindel, das sich verstellt, um die Leute zu
betrügen. Denn während sie dem einfachen Volk weismachen, sie wären mit
geistlicher Betrachtung und Andacht, mit Fasten und Verzicht beschäftigt und
hielten ihr bißchen Sterblichkeit nur eben so am Leben, lassen sie es sich Gott
weiß wie wohl sein, et Curios simulant, sed bacchanalia vivunt (Sie tun als
seien sie wie Curius, aber leben wie auf Bacchanalien). Das könnt ihr in großer
Leuchtschrift von ihren roten Backen und ihren Wänsten ablesen, vorausgesetzt,
sie pudern sich nicht mit Schwefel.« [21]
An den großen Volksfesten, bei denen, anstatt Staub zu schlucken, wie beim
bürgerlichen 15. August oder 14. Juli, die Kommunisten und Kollektivisten die
Fläschchen kreisen, die Schincken herumreichen und die Becher hochleben lassen,
werden die Mitglieder der Akademie der moralischen und politischen
Wissenschaften, die Frack und Talar tragenden Pfaffen der ökonomischen,
katholischen, protestantischen, jüdischen, positivistischen und freidenkerischen
Kirche, die Vertreter des Malthusianismus, der christlichen,
menschenfreundlichen, unabhängigen oder unterwürfigen Moral in gelbem Kostüm die
Kerzen halten, bis sie sich die Finger verbrennen; und unter ausgelassenen
Frauen, bei mit Fleisch, Früchten und Blumen beladenen Tafeln werden sie
hungern, bei gefüllten Fässern dürsten. Viermal im Jahr, immer beim Wechsel der
Jahreszeiten, wird man sie wie die Hunde von Scherenschleifern in Tretmühlen
zehn Stunden lang Wind mahlen lassen. Die gleiche Strafe wird über Advokaten und
Rechtsgelehrte verhängt.
Um die Zeit totzuschlagen, die uns Sekunde für Sekunde tötet, wird man im Reich
der Faulheit ständig Schauspiele und Theateraufführungen veranstalten -
gefundene Arbeit für unsere bürgerlichen Gesetzgeber. Man wird sie zu Truppen
zusammenstellen, die auf die Dörfer und Flecken ziehen und
Gesetzgebungsvorstellungen aufführen. Generäle in Reitstiefeln, die Brust mit
Tressen verschnürt, mit Orden und dem Kreuz der Ehrenlegion behängt, werden
durch die Straßen und Plätze laufen und die lieben Leute einladen. Gambetta und
Cassagnac, sein Kumpan, werden vorm Eingang ihre Späßchen aufführen. Cassagnac
wird, als Stierkämpfer kostümiert, die Augen rollen, den Schnurrbart drehen,
Feuer spucken und jeden mit der Pistole seines Vaters bedrohen, aber sich in ein
Loch stürzen, sobald man ihm das Bild von Lullier zeigt. Gambetta wird über
Außenpolitik palavern, über das kleine Griechenland, das ihm was vormacht und
Europa in Brand steckt um die Türkei übers Ohr zu hauen; über das große Rußland,
das ihn um den Verstand bringt mit dem Kompott, das es aus Preussen zu machen
verspricht und das Westeuropa sämtliche Plagen an den Hals wünscht um im Osten
sein Spiel zu treiben und die Staatsverdrossenheit im Innern zu erdrosseln; über
Herrn von Bismarck, der ihm in seiner großen Güte erlaubte, sich zur Frage des
Straferlasses zu äußern ... Dann wird er seinen riesigen dreifarbig bemalten
Wanst entblößen, wird die Trommel rühren und die köstlichen Tierchen, die
Fettammern, die Trüffeln, die Gläser voll Margaux und Yquem aufzählen, die er
hinuntergestopft hat, um die Landwirtschaft zu fördern und die Wähler von
Belleville bei Laune zu halten.
In der Bude aber wird man zuerst die Wahlposse aufführen.
Vor Wählern mit Holzschädeln und Eselsohren werden Bourgeois-Kandidaten, mit
Stroh bekleidet, den politischen Freiheitstanz aufführen, indem sie sich vorne
und hinten mit ihren Wahlprogrammen voller Versprechungen beschmieren, mit
Tränen in den Augen von den Leiden des Volkes und mit klangvoller Stimme vom
Ruhm Frankreichs reden. Worauf die Köpfe der Wähler im Chor ein kräftiges Iah!
Iah! brüllen.
Dann beginnt das große Stück: Der Diebstahl der Güter der Nation
Das kapitalistische Frankreich, ein ungeheuerliches Weib mit rauhem Gesicht und
kahlem Schädel, schlaff, mit welker, bleicher und aufgedunsener Haut, liegt
schläfrig und gähnend mit glanzlosen Augen auf einem Sofa hingestreckt.
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