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Erich Mühsam
Bismarxismus (1927)
Freiheit ist ein religiöser Begriff. Wer mit dem Ziele der Freiheit Revolutionär
ist, ist ein religiöser Mensch, Revolutionär sein ohne religiös zu sein, heißt
mit revolutionären Mitteln andre als freiheitliche Ziele ansreben. Anders
gesagt: Revolutionäre Entschlossenheit kann aus einer seelischen Not stammen,
aus dem Empfinden der Unerträglichkeit von Zwang, Gesetz und Entpersönlichung -
dann ist sie religiös; sie kann auch stammen aus der nüchternen Errechnung von
Zweckmäßigkeit, wenn sich unter ihren Faktoren die Revolution als unumgängliches
Mittel erwiesen hat - dann ist sie positivistisch. Der Posiitivist, - das ist
der kirchliche Mensch im Gegensatz zum religiösen, der Leugner der Wildheit, des
Rausches und der Utopie: der Dogmatiker und Fatalist, dem die Freiheit eine
Kleinbürger-Phantasie und der Kampf ums Dasein eine Bestimmungs-Mensur scheint.
Hier wird zu Revolutionären gesprochen, deren revolutionäres Ziel die Freiheit
ist. Freiheit ist ein gesellschaftlicher Zustand, dessen Fundament die
freiwillige Vereinbarung der Menschen zu gemeinsamer und einander ergänzender
Arbeit und zur gegenseitigen Verbürgung des Lebens und seiner Güter bildet. Der
gesellschaftliche Zustand der Freiheit beruht auf der Freiheit der
Persönlichkeit, die Freiheit des Einzelnen aber findet ihre Grenze an der
Freiheit der Gesamtheit; denn wo nicht alle Menschen frei sind, kann keiner frei
sein. Das Ringen um diese Freiheit, die unvereinbar ist mit irgend welcher Art
Obrigkeit, gesetzlichem Zwang, angeordneter Disziplin oder staatlicher Gewalt,
ist die religiöse Idee der Anarchie. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es der
revolutionären Umwälzung der Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens
der Menschen, will sagen der Schaffung der materiellen Basis, auf der allein
Freiheit möglich ist: das ist ökonomische Gleichheit. Wir Anarchisten sind
Sozialisten, Kollektivisten, Kommunisten, nicht weil wir in der gleichmäßigen
Regelungen von Arbeitsleistung und Produktenverteilung die letzte Forderung
menschlicher Glückseligkeit erfüllt sähen, sondern weil uns kein Kampf um
geistige Werte, um Vertiefung und Differenzierung des Lebens möglich scheint, -
und eben dieser Kampf ist der Sinn der Freiheit -, solange die Menschen unter
ungleicheen Bedingungen geboren werden und heranwachsen, solange geistiger
Reichtum in materieller Armut ertrinken, geistige und seelische Armseligkeit im
Glanze erkaufter Macht und Bildung als Reichtum strahlen kann.
Gleichheit hat mit dem, was heute Demokratie heißt, nicht das mindeste zu
schaffen. Die Gleichheit der bürgerlichen Demokratie beschränkt sich auf die
Anerkennung, daß jede zur Stimmabgabe zugelassene Person als eine Stimmeinheit
zu zählen sei. Dabei ist die Mehrheit der Stimmen selbstverständlich immer der
Klasse verbürgt, die durch ihre wirtschaftlichen Privilegien fast den gesamten
Beeinflussungsapparat beherrscht; überdies sind aber die Institutionen, für die
gewählt werden darf, ihrer Art nach nur geeignet, Bestehendes zu erhalten und zu
verwalten. Mag die Mehrheit der Wähler immerhin mit revolutionären Absichten
votieren, die Gewählten, welcher Programmrichtung sie auch angehören mögen,
können in ihren Körperschaften niemals anders als konservativ handeln.
Sozialismus und Freiheit ist auf dem Wege der Demokratie nicht zu erlangen;
Demokratie aber im Sinne von Freiheit und Gleichheit ist nur auf dem Boden des
restlos verwirklichten Sozialismus möglich. Diese eigentliche Demokratie, die
die Herrschaft der Gesamtheit über sich selbst, das ist die Selbstbeherrschung
jedes Einzelnen im Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Mission, bedeutet,
bedingt wirtschaftliche und rechtliche Gleichheit, die die Voraussetzung aller
Freiheit ist.
Nirgends in der Welt steht der religiöse Drang nach Freiheit tiefer im Ansehn
als bei den Deutschen. Der Positivismus, als philosophisches Prinzip von dem
Franzosen Comte aufgerichtet, fand seinen realen Nährboden in dem Lande, das
schon den Sieg des brutalen Rationalisten Martin Luther über den glühenden
Weltstürmer Thomas Münzer erlebt hatte. Das ist die ganze Geschichte
Deutschlands: immer und überall zertrampelt das Schema und die Formel den
lebendigen Geist, die Schulweisheit den Impuls des Inneren Wissens, die Kirche
die Religion. Der stärkste Geist der deutschen Geniezeit, Goethe, imponiert den
Deutschen nicht durch seine apollinische Natur, sondern durch seine robuste
Lebensauffassung, und sie verehren ihn, weil er seinen phänomenalen Verstand so
gut bürgerlich zu kleiden wußte und weil er den Oberlehrern die bequeme Phrase
des gesättigten Appetits geliefert hat, daß, wo Gleichheit sei, keine Freiheit
bestehn könne. Von den innigsten Geistern jener Zeit, Hölderlin und Jean Paul,
weiß der Deutsche wenig, und warum der Versuch der Romantiker, vor den
Stiefeltritten des Preußenschneids in Mythologie und Mystizismus zu flüchten, in
fade Sentimentalität umschlug, um endlich vom Literatentum der Börne und Laube
im Positivismus begraben zu werden - darüber machen sich die Leute keine
Gedanken. Das junge Deutschland - das war literarischer Positivismus, verschärft
mit Hegelei.
Der Positivismus, die Philosophie der nüchternen Gegebenheiten, die letzten
Endes Gelehrsamkeit mit Wirklichkeit verwechselt, und der Hegalinianismus, das
uniforme Metternichtum des Geistes, dessen apodiktische Abstraktionen und
dialektische Gaukeleien den Irrsinn produzieren, alles Wirkliche vernünftig zu
finden, - diese beiden Denkfesseln mußten sich gleichzeitig um die
Willensgelenke der Deutschen legen, um ihre beste Eigenschaft, den
Kosmopolitimus, zu vernichten und an seiner Stelle im Geistigen, wie im
Politischen den Zentralismus, das natonale Reglement, das "Staatsbewußtsein"
wachsen zu lassen. Das Preußentum, das Luthertum - in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunndeerts, als der Kapitalismus Deutschland zu industrialisieren begann,
gebar es aus der Banalität der konkretesten und der Verschrobenheit der
abstraktesten aller Philosophien die Theorie seiner Geistverlassenheit und der
in kapitalistischen Formen entbrannte Klassenkampf in Deutschland sah die Gegner
auf beiden Seiten den gleichen philosophischen Strick ergreifen, - nur faßten
ihn beide am entgegengesetzten Ende an. Bismarck spaltete Deutschland und schuf
das zentrale Reichsgebilde mit dem Preußenkönig als Kaiser an der Spitze, so den
Boden bereitend für die hemmungslose Entfaltung des kapitalistischen
Besitzmonopols; Karl Marx spaltete die Arbeiter-Internationale, warf Bakunin und
alle Revolutionäre hinaus, die der Selbstverantwortlichkeit des Proletariats,
seinem Freiheitswillen und seiner Entschlußkraft mehr zutrauten als den
Rechenkünsten festbesoldeter Revolutions-Manager und machte aus der Religion des
Sozialismus die Kirche der Sozialdemokratie. Bismarck arrangierte drei Kriege,
um den Agrar-, Industrie-, und Börsenkapitalisten die nötige Ellenbogenfreiheit
für die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu schaffen; Marx schrieb eine
für die Zeit ihres Entstehens meisterhafte, aber sehr professorale Analyse des
Kapitals, die er mit einer von Hegel entlehnten abstrakten Philosophie
garnierte, wonach der Kapitalismus die naturnotwendige Konsequenz der sich am
Faden der historischen Dialektik abspulenden Menschheits-Entwicklung sei und der
historische Materialismus sein Aufschwellen bis zu der Überfülle bedinge, die
ihn unter Nachhilfe der unausweichlichen proletarischen Revolution von selber
platzen lassen werde. Bismarck praktizierte den Obrigkeitsstaat, dessen
Machtfundament von der Kommandogewalt des Unteroffiziers über den Rekruten
gestützt wurde; Marx kopierte in Partei und Gewerkschaft die Disziplin und den
Drill, die Subordination und Schnauzerei des Kasernenstaates und übernahm dazu
von der katholischen Kirche die Unfehlbarkeit des Papstes und
Avancement-Stufenfolge nach dem Grade ergebener Frömmigkeit. Bismarck endlich
ordnete seinen Staat nach dem Prinzip des autoritärsten Zentralismus, wie es den
Wünschen und den Interessen der ausbeutenden Bourgeoisie entsprach, und Marx
proklamierte diese Organisationsform als die dem Proletariat nach der
Machtergreifung ebenfalls gemäße des "Arbeiterstaates".
So wuchsen im neuen Deutschen Reich zwei feindliche Stämme aus derselben Wurzel,
einer öden und phantasielosen Autoritätslehre; genährt von den gleichen Kräften,
gedanken- und begeisterungsloser Disziplin und anspruchsvollem und gänzlich
unfruchtbarem Bürokratismus; beide entschlossen, jede Konkurrenz mit allen
Mitteln der Macht oder doch des Machtwillens niederzuschlagen: Bismarck den
nationalen Kapitalismus anderer Länder, Marx die revolutionären Sozialisten, die
weder von Marxens fatalistischer Theorie noch von Bismarcks allgemeinem
Wahlrecht Gebrauch zu machen wünschten und keine Staaten zu erobern sondern alle
zu zerstören trachteten, um statt ihrer die von keinen Staatsgrenzen getrennt
arbeitenden Menschen nach eigenen Ratschlüssen produzieren und konsumieren zu
lassen. Die peinlichste Ähnlichkeit der beiden Stämme, die in Deutschland als
bismarcksche kapitalistische Staatsmacht und als marxsche doktrinäre
Arbeiterbewegung zu den Sternen strebte, die ihnen nicht leuchteten, war der
völlige Mangel an jeder schöpferischen Originalität, die völlige Abwesenheit
aller religiösen Inbrunst, in Wesen und Ziel der völlige Verzicht auf jedwede
Freiheit. Dieser Mangel, verbunden mit Anmaßung, Pedanterie, Bürokratendünkel,
Paragraphenbesessenheiten und Schulmeisterei - das ist der deutsche Kujonengeist,
dem die herrschende Klasse ihren stumpfsinnigen Aufstieg von gepflegter alter
Kultur zur Geldmacht und einem komfortablen Stande auf dem internationalen
Sklavenmarkt verdankt, und der die deutsche Arbeiterbewegung immer weiter vom
Sozialismus weg auf den Weg der Resignation und zur inneren Fäulnis und
Kampfunfähigkeit geführt hat. Es ist das, was ich, den ganzen Jammer unsrer Zeit
umfassend, Bismarxismus nenne.
Die Parallele von Bismarcks untheoretischer Praxis und Marxens unpraktischer
Theorie hat schon vor 5 1/2 Jahrzehnten Michael Bakunin gezogen, der von
oberflächlichen Beurteilern vielfach als Antisemit und Deutschlandfeind
ausgegeben wird. Er war beides nicht und hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt,
für das Eine oder das Andere gehalten zu werden. Dennoch tobt er in seinen
Polemiken immer wieder mit wütendem Haß gegen "die Deutschen" und "die Juden".
Mögen unsere Hakenkreuz-Teutonen wissen, daß Bakunin beide Ausdrücke gebrauchte,
um ein und dieselbe Eigenschaft damit zu bezeichnen, eben die, für die ich das
Wort Bismarxismus vorschlage. Bakunin schimpfte auf die deutschen Juden und auf
die jüdischen Deutschen und meinte den von dem Deutschen Bismarck und von dem
Juden Marx in gleicher Feindschaft gegen Menschenwert und Freiheit geübten Geist
der Despotie und der zentralistischen Autorität; unter diesem Gesichtspunkt
identifizierte er die Begriffe Deutschtum und Judentum volständig,
selbstverständlich in vollem Bewußtsein dessen, daß er damit nur eine einzige
Untugend charakterisiere, für die ihm eine bestimmte Art Deutsche und eine
bestimmte Art Juden repräsentativ schienen.
Michael Bakunin ist nun über 50 Jahre tot. Die trostlosen Prophezeiungen, die er
der proletarischen Revolution für den Fall hinterließ, daß die Bismärckerei
Europa und die Marxerei die Arbeiterbewegung verseuche, sind in fürchterlichem
Maße Wahrheit geworden. Aber schon neigen sich die Schatten des Untergangs über
beide Infektionsgebiete. Wenn ich hier einmal das Wort von der "Todeskrise des
Kapitalismus" übernommen habe, so irrt der Genosse, der mich darum angriff,
wähnend auch ich hätte mich nun der fatalistischen Ideologie des Marxismus
ergeben, die die Weltgeschichte nach ehernen Gesetzen und unabhängig vom aktiven
Tatwillen der Menschen in "naturnotwendiger" Entwicklung dialektisch ihr Pensum
erledigen sieht. Im Gegenteil: Ich stimme vollständig überein mit der Ansicht
Gustav Landauers, daß jederzeit und überall die Beseitigung des Kapitalismus und
die Aufrichtung des Sozialismus möglich ist, wenn die Menschen das Notwendige
veranstalten, um die revolutionären Bedingungen dazu zu schaffen. Die
"Todeskrise des Kapitalismus" ist für mich nicht eine Erscheinung der göttlichen
Vorsehung, die uns berechtigen könnte, geruhsam zuzusehen, wie jetzt das
bestehende Wirtschaftssystem automatisch zusammenkrachen und an seiner Stelle
ebenso gottgewollt und unausbleiblich ein neues sozialistisches und in der
Reihenfolge marxistisch errechneter "Phasen" aufblühen werde. Von dieser Krise
nehme ich aber untrügliche Erscheinungen wahr, deren erste und verständlichste
der Weltkrieg mit seinen für die kapitalistische Maschinerie unreparierbaren
Folgen war; das Erkennen dieser Krise hat mit Fatalismus nichts zu tun, sondern
verpfichtet zum Eingreifen, damit die krepierende Bestie nicht in der Agonie die
Keime vernichtet, aus denen Revolution, Sozialismus und Freiheit erwachsen
sollen. Das Verrecken des Kapitalismus in seiner bisherigen Form bedingt
keineswegs das Entstehen des Sozialismus an seiner Stelle. Ein andrer,
vielleicht besser organisierter Kapitalismus kann, wenn die revolutionären
Sozialisten die Todeskrise nicht durch den Todesstoß beschleunigen, sehr wohl
der Ausbeutung in veränderten Formen neue und noch erweiterte Möglichkeiten
schaffen. Bleibt der Staat in irgend einer Gestalt am Leben, dann hat der
Kapitalismus und mit ihm der Positivismus, das Kirchentum des Lebens, mit einem
Wort der Bismarxismus freies Feld.
Die Todeskrankheit des Kapitalismus ist aber zugleich die Todeskrankheit des
Marxismus. Heute steht ja, zumal in Deutschland, die Arbeiterbewegung fast
ausnahmslos auf dem Boden dieser fatalistischen Lehre, und Sozialdemokraten und
Unabhängige, rechts- und linksbolschewistische Kommunisten, KAPisten und
Unionisten aller Schattierungen sieht man sich unter Aufwand haarsträubender
Rabulistik gegenseitig die Bibel des garntiert wissenschaftlichen Sozialismus,
die Marxdoktrin, auslegen. Am Bibelwort selbst zu rühren, die Heilswahrheit des
gesamten Marxismus anzuzweifeln, das wagt keiner von ihnen allen, das ist unter
Sozialisten ein solche Verbrechen, wie bei den Bismarck-Epigonen die Verneinung
der Notwendigkeit des großpreußischen Deutschen Reiches. Und siehe: die Bejahung
dieser Notwendigkeit geschieht nirgends so überzeugungsvoll wie bei den
sozialdemokratischen und kommunistischen Marxisten. Jene 1918/19, diese 1923:
Bismarxismus auf der ganzen Linie
Ist das zu verwundern? Der Marxismus - Landauer weist in seinem herrlichen
"Aufruf zum Sozialismus" nachdrücklich darauf hin - beschäftigt sich in allen
seinen theoretischen Schriften nirgendwo mit dem Sozialismus, er erschöpft sich
in der Analyse und Kritik des Kapitalismus. Indem er aber ausgeht von der
Hegelschen Lehre der Vernünftigkeit alles Seienden und die unausweichliche
Notwendigkeit der kapitalistischen Periode behauptet, ja, ihre Fortentwicklung
bis zum Kulminationspunkt in die Zukunft hinein zur Grundlage seiner
Revlutionslehre macht, bejaht er zunächst alle Voraussetzungen des Kapitalismus,
und so bejaht er den Staat, den Zentralismus, das Autoritätsprinzip, alles,
worauf der Kapitalismus ruht. Das Proletariat kann nicht zu Freiheit und
Sozialismus kommen, ehe es nicht auch in der Idee vom Staat losgekommen ist. Es
kann nicht vom Staat loskommen, ehe es nicht in seinem eigenen Befreiungskampf
die Lehren verwirft, die die Stützen jedes Staatsglaubens sind: Autorität und
Disziplin, Zentralismus und Bürokratismus, Positivismus und Fatalismus. Die
Wissenschaft, sagt Bakunin, hat das Leben zu erhellen, nicht zu regieren.
Führerin im Kampf sei dem revolutionären Proletariat nicht die anfechtbare
Wissenschaft des Marxismus, der nicht andres ist als Bismarxismus, sondern der
unanfechtbare religiöse Glaube an sein Recht und seine Kraft, der Haß gegen die
Ausbeutung und der Wille zur Freiheit!
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