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Erich Mühsam
Staatsverneinung (1926)
Das Problem des Staates ist ein Problem der Macht. Menschen, einzelne oder in
Gruppen verbundene, denen die Erringung der gesellschaftlichen Macht über die
Mitmenschen gelungen ist, bedürfen eines zentralen Machtapparates, um die
Unterworfenen auf die Dauer in ihrer ökonomischen Abhängigkeit zu halten. Es
gibt keine andere Unterwerfung von Menschen unter die Macht anderer als ihre
Fesselung in wirtschaftliche Hörigkeit. Das politische Zwangsinstrument dieser
wirtschaftlichen Fesselung ist der Staat.
Die Staatsform, um die unter den jeweiligen Inhaber und Anwärtern der
gesellschaftlichen Exekutivgewalt ein aufgeregtes und verwirrendes Geschrei
tost, ist in Hinsicht der Funktion des Staates als Vollstreckungsorgan der
ökonomischen Ausbeutung ohne alle Bedeutung. Mag das despotische Sultanat eines
absoluten Herrschers, die konstitutionell eingeschränkte Monarchie, die
faschistische Diktatur, die republikanische Demokratie oder die Oligarchie eines
Parteivorstands ein Land regieren, - jede dieser Methoden erweist sich schon
durch ihre zentralistische Struktur als dem Volksganzen übergeordnet, demnach
als vom Volksganzen losgelöst, mithin als dem Volksganzen feindlich.
Zentralismus bedeutet nichts anderes als Direktion von oben nach unten,
Herrschaft der Verwaltung über Verwaltete, Befehlsgewalt der Schalterbeamten,
Entmündigung der gesellschaftsbildenden Masse, Bürokratismus. Jedes
zentralistische Gebilde kann nur als Machtapparat bestehen; Macht in
gesellschaftlichem Sinne ist immer ökonomische Unterdrückung; also ist
Staatsmacht in allen ihren Formen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten stets der
Rechtsvorwand einer Klasse zur Beherrschung und Ausbeutung der andern Klasse.
Staat und Obrigkeit sind Synonyme: daher kann es keine anderen Staaten geben als
Obrigkeitsstaaten. Staat und Klassengesellschaft sind Synonyme; daher kann es
keine anderen Staaten geben als Klassenstaaten. Staat und Zentralismus sind
Synonyme; daher kann es im Staat keine Organisation von unten nach oben, keinen
ausbeutungslosen Sozialismus, keine Selbstbestimmung des Volkes, keine
Zusammengehörigkeit der Gesamtheit, kein einheitliches Recht und kein
Volksganzes geben.
Der Ursprung des Staates ruht in dem Bedürfnis nach ökonomischer
Machtbefestigung. Das Prinzip des Staates, jedes Staates, ist die juristische
Sicherung des Privilegs der Ausbeutung der gesellschaftlichen Arbeit durch eine
schmarotzende Minderheit. Es ist völlig wahr, was die Marxisten sagen - nur ist
diese Wahrheit, wie viele andere marxistische Erkenntnisse bedeutend älter als
der Marxismus, - daß der Staat Produkt und Ausdruck der ökonomischen
Klassendifferenzierung in der Gesellschaft ist. Aber die Marxisten übersehen
oder unterschätzen einen Umstand von allgemeiner Geltung. Alle
gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen sich immer nur die Ausdrucksform, die
durch ihre besondere Wesensart bedingt ist. Das bedeutet, daß die
Organisationsform eines sozialen Zustandes nicht auf einem neuen, grundsätzlich
verschiedenen, übertragenen werden kann. Der zentrale Staat wurde geschaffen als
administrativer Apparat der gesellschaftlichen Ausbeutung; in seiner
gegenwärtigen Gestalt als wesensloses Räderwerk eines öden bürokratischen
Mechanismus ist er der präziseste Ausdruck des verfallsreifen Hochkapitalismus.
Es ist nicht möglich, die kapitalistische Ausbeutung zu beseitigen, ohne das
Gehäuse zu zerschlagen, daß der Kapitalismus sich zu seinem Wachstum gemäß
seinen besonderen Bedürfnissen gebaut hat. Das hat zum Glück der russischen
Revolution Lenin eingesehen gehabt, als er 1917 im Bunde mit Anarchisten und
linken Sozialrevolutionären Bakunins Auffassung, daß der Staat nicht, wie Marx
und Engels lehrten, zu erobern, sondern zu zerstören sei, zu praktischer
Durchführung verhalf. Leider fielen jedoch die Bolschewiken nach vollbrachter
Tat in den staatsautoritären marxistischen Aberglauben zurück und errichteten an
Stelle des zertrümmerten zentralistischen Staatsapparates einen neuen der
gleichen Struktur, in der naiven Meinung, in dem vom Kapitalismus für seine
Methoden ersonnenen, für seine Ausbeutungszwecke temperierten Treibhause
Sozialismus und Gleichheit, klassenlose Gemeinsamkeit und Autonomie der Räte
entwickeln zu können. Die Verwaltung des Gemeinwesens durch die von den
Arbeitsstätten aus von unten nach oben wirkende föderative Organisation der
Räte, die von den revolutionären Kommunisten aller Schattierungen als Ziel
angestrebte Räterepublik, kann niemals ein Staatsgebilde sein. Staat setzt
Regierung voraus, das ist obrigkeitliche Befehlsgewalt und Rangordnung.
Die Räterepublik ist charakterisiert in der Forderung der russischen Arbeiter
und Bauern von 1917, die das revolutionäre Weltproletariat als Kampfruf
aufgenommen hat: Alle Macht den Räten! Räte sind die aus den
Produktionsbetrieben unmittelbar entsandten, für jede Einzelfrage nach
besonderer Eignung ausgesuchten, stets abrufbaren und auswechselbaren, unter
dauernder Kontrolle der Werktätigen nach deren eigenen bindenden Beschlüssen
handelnden Delegationen der industriellen und landwirtschaftlichen
Betriebsbelegschaften. in den Räten ist also die gesamte städtische und
ländliche arbeitende Bevölkerung zur direkten Ausübung aller
Verwaltungsfunktionen des Gemeinwesens zusammengeschlossen. Die Leistung der
Verwaltungsaufgaben in den gemeinsamen Angelegenheiten weiterer und weitester
Bezirke geschieht durch Unterdelegationen dieser Räte zu Kreis-, Provinzial-,
Landes-Räte-Kongressen nach dem gleichen Grundsatz der Verantwortung nach unten,
der Abrufbarkeit, des gebundenen Mandates, bis hinauf zu den höchsten
Exekutivorganen, dem Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volksbeauftragten,
denen keine Legislative, sondern durchaus nur die Ausführung des Willens der im
Produktionsprozeß unmittelbar Tätigen zusteht, und die, stets gewärtig, den
Platz im ganzen oder für einzelne Aufgaben berufeneren Genossen räumen zu
müssen, immer nur Beauftragte, nie Auftraggeber sind. Die Verfassung der
Russischen Sozialistischen Förderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918, die
der Zusammenarbeit marxistischer und anarchistischer Kräfte zu danken ist, hat
die Prinzipien dieses staatlosen Systems, wenn auch noch nicht unter restloser
Konsequenz, so doch mit der klaren Hervorhebung der Tendenz herausgearbeitet,
daß in dieser Konstitution der Übergang gesucht wird zur "Einsetzung der
sozialistischen Gesellschaftsordnung, unter der es weder eine Klassenteilung
noch eine Staatsmacht geben wird".
Föderalistische Organisation heißt Organisation von der Basis zur Spitze,
Verbindung der wirkenden Kräfte zu selbstverantwortlichem Tun, statt Übertragung
der Verantwortung auf übergeordnete Instanzen. Der Rätegedanke ist demnach eine
rein föderalistische Idee. Der Versuch, eine Regierungsgewalt mit dem Rätesystem
zu verquicken, hebt die Omnipotenz der Räte praktisch auf und setzt über die
Räte, denen doch "alle Macht" gehören soll, eine andere Macht. Die Gründe, die
die Bolschewiken veranlaßten, anstelle der Rätediktatur die Diktatur ihrer
Partei zu errichten, liegen freilich auf der Hand. Sie fürchten, daß unter den
werktätigen Arbeitern und Bauern eine Mehrheit von indolenten, der
west-europäischen Demokratie ergebenen oder gar der feudalistischen Tradition
anhängenden Elementen die Räterepublik als bestimmenden Faktoren von vorn herein
unrettbar diskreditieren, und sie an der Erfüllung ihrer revolutionären Mission
hindern würden nämlich die Überführung der Reste der kapitalistischen Wirtschaft
in die sozialistisch-kommunistische Produktions- und Lebensordnung zu
gewährleisten. Ohne Zweifel war diese Gefahr groß, ohne Zweifel konnte ihr aber
auf andere Art gesteuert werden, als dadurch, daß über die Räteinstanzen eine
Parteiregierung und damit ein zentraler Staat gestülpt wurde, dessen
monopolitische Politik wohl die konterrevolutionären Bestrebungen der
Menschewisten, der rechten Sozialrevolutionäre und der übrigen Helfershelfer der
von der geeinten revolutionären Arbeiter- und Bauernschaft niedergeworfenen
Weißgardisten unterdrückte, zugleich aber auch, und zwar in viel höherem Maße
als Passive und Indifferente, die aktive vorwärtsdrängenden linken Revolutionäre
aller Richtungen, die Anarchisten, linken Sozialrevolutionäre, Maximalisten und
die Linkskommunisten, soweit sie nicht der bolschewistischen Partei angehörten,
niederhielt und unter Verfolgung stellte, also gerade die Kräfte, ohne deren
energische Beteiligung die Oktoberrevolution niemals hätte siegreich sein
können.
Der Grundirrtum der marxistischen Theorie, das zentralistische Prinzip gewann in
Rußland Geltung. Aus der Räterepublik wurde ein "Räte-Staat", ein Widerspruch in
sich selbst. Eine Staatsregierung, an deren Wesensart der Name "Räte-Regierung"
nichts ändern kann, erläßt Staatsgesetze, und das Gefäß des Staates füllt sich
langsam und unaufhaltsam mit dem Inhalt, für den die Form des Staates
ursprünglich geschaffen, für dessen Aufnahme sie allein geeignet ist: mit dem
Inhalt kapitalistischer Konzessionen.
Das russische Revolutionsproblem läßt sich nicht von einem Punkt aus beurteilen.
Die krisenhafte Zuspitzung der Differenzen wegen der russischen Staats- und
Wirtschaftspolitik und mithin der Taktik und der Methoden der kommunistischen
Internationale, die heute die populärsten Persönlichkeiten der revolutionären
Heroenzeit in Opposition gegen das herrschende Regime zeigt, unter ihnen
Trotzki, Sinowjew, Kamenew und selbst Lenins Witwe, Krupskaja, hat zahlreiche
Gründe, die zum allergeringsten Teil in persönlichen Rivalitäten, geschweige
denn in gewolltem Verrat oder mangelndem Idealismus zu suchen sind. Die
Tatsachen sind überall stärker als die Menschen, zumal die Tatsachen der
Ökonomie. Nur stellen auch Tatsachen, an deren Auswirkungen die Menschen nicht
mehr vorbeikommen, ihr Verhalten unter dem Gesichtspunkt zur Kritik, ob nicht
ein anderes Verhalten andere Tatsachen gezeitigt hätte. Und da sollte man bei
der Erörterung der russischen Frage nicht an der Möglichkeit vorbeigehen, daß
die Gesamtanlage des bolschewistischen Staatssystems an einem
Konstruktionsfehler leidet: an dem, daß die föderative Rätemacht durch eine
zentralistische Staatsmacht ersetzt ist.
Die bevorstehenden Revolutionen der westeuropäischen Proletariate haben aus den
Erfahrungen der russischen Arbeiter und Bauern in ernster Prüfung zu lernen. Sie
können unendlich viel Nachahmenswertes von ihnen annehmen. Die warnende Lehre
der russischen Revolution aber ist ihre Kapitulation vor der Idee des Staates.
Staat, man mag ihn kneten wie man will, ist Unterwerfung der Arbeitenden, ist
Klassenscheidung der Gesellschaft. Ein "Räte-Staat" ist niemals eine
Räterepublik. Denn Staat ist immer die Ausdrucksform unterdrückender
Zentralgewalt: Räterepublik aber ist die förderalistische Ordnungsform der
Anarchie, d. h. der obrigkeitslosen Selbstbestimmung der gesellschaftlichen
Gesamtheit. Die Revolution, die den Staat nicht austilgt, so daß an seiner
Stätte nichts ähnliches Je wieder wachsen kann, wird ohne Hoffnung sein, die
klassenlose kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen. Die Diktatur des
Proletariats ist nötig als Diktatur der Klasse, solange die feindliche Klasse
noch Atem hat: als Diktatur der Revolution gegen die Konterrevolution. Der
Ersatz der proletarischen Diktatur durch die Diktatur einer obrigkeitlichen
Regierung bedeutet die Preisgabe der sozialen Revolution an den Staat. Der Staat
aber ist unvereinbar mit dem Recht des Arbeiters; er ist der Todfeind der
sozialen Gleichheit. Wo Staat ist, kann keine Freiheit sein und keine werden.
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