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Erich Mühsam
Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip (1929)
Die Geschichte der Menschheit mit ihren Kriegen und Revolutionen, mit ihren
Bestrebungen um Änderung, Besserung, Beseitigung oder Erhaltung von Zuständen
und Einrichtungen, mit all ihren politischen, wirtschaftlichen, religiösen und
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen vollzieht sich in immer
veränderten Forderungen dennoch immer mit derselben Begleitmusik. In allen
Zeiten, bei allen Völkern, wo Meinung gegen Meinung, Losung gegen Losung stand
und steht, empfehlen sich die Beschützer des Alten wie die Pioniere des Neuen
als die Sachverwalter der Freiheit. Es gibt keine Bewegung, hat nie eine gegeben
und kann keine geben, die erfolgreich um Anhang für sich werben könnte, wenn
nicht auf ihrer Standarte das Bekenntnis zur Freiheit beschworen ist. Wo Ziele
erstrebt werden, die über materielle Nützlichkeit hinausreichen oder doch
hinauszureichen scheinen, kann Gefolgschaft nur mit sittlichen Zwecksetzungen
gewonnen werden; zum sittlichen Begriff schlechthin aber, dem alle übrigen
sittlichen Werte ein- und untergeordnet sind, der die hohen seelischen
Eigenschaften der menschlichen Gesellschaft wie Ehre, Ruhm, Kultur, glückliche
Verbundenheit, in der natürlichen Vorstellung aller zur Gefolgschaft geeigneten
Massen umfasst, wird von allen verschiedenen und entgegengesetzten Parteien und
Vereinigungen die Freiheit erhoben. Denn das Wort Freiheit ist im Sprachgefühl
der Menschen das einzige, das in sich die Eigenschaften der individuellen Tugend
mit denen eines gesellschaftlichen Ideals verbindet.
Daß offenbar jeder Mensch die Freiheit als gesellschaftliches Ideal empfindet,
ist ein Beweis dafür, daß die Sehnsucht nach individueller Freiheit in der
menschlichen Natur selber begründet ist. Dieser Sehnsucht nach persönlicher
Steigerung der Lebenswerte muß jede Werbung Rechnung tragen, die die allgemeine
Erhöhung des Kollektivgefühls zu bewirken verspricht. Daher und weil bei
primitven Menschen ebenso wie bei differenzierten das Streben nach veredelter
Gemeinschaft durchaus gleich empfunden wird mit dem Streben nach vermehrter
Freiheit in der Verbundenheit aller, spielt sich fast aller öffentliche Kampf um
die Geister der Menschen als ein Wettstreit der Weltanschauungen, der
politischen und wirtschaftlichen Bekenntnisse und der sozialen Grundsätze ab,
die eigene Freiheitlichkeit als die beste zu erweisen, das fremde und feindliche
Prinzip als freiheitswidrig herabzuwürdigen. Wäre nun die Freiheit im
Sprachbewußtsein der Menschen ein klar erkanntes und in ihrer Bedeutung
einhellig erfasstes sittliches Gut, dann bedürfte es keiner konkurrierenden
Anpreisung gesellschaftlicher Programme unter dem Gesichtspunkt der Freiheit,
dann wäre es leicht, unter den empfohlenen Systemen dasjenige herauszufinden,
das der positiven Forderung am nächsten käme oder gar sich mit ihr deckte.
Leider verbindet sich jedoch bei den meisten Menschen mit dem Wort Freiheit nur
ein ganz verschwommener Empfindungswert, so daß aus dem gesellschaftlichen
Begriff, der aus dem stärksten ethischen Drang des Menschen stammt, die
seichteste aller öffentlichen Phrasen werden konnte. Es gibt in den vielen
Jahrtausenden übersehbarer Menschengeschichte keine Tyrannis, keine
Unterdrückung und Vergewaltigung von Arbeits- und Willenskräften, die sich nicht
des Freiheitsverlangens ihrer Opfer bedient hätte, um zur Macht zu kommen. Der
Sklave nämlich stellt sich fast niemals die Freiheit vor, sondern leidet nur
unter der greifbar erlebten Unfreiheit und läßt sich somit leicht überreden,
neue Knechtschaft auf sich zu laden, wenn nur der neue Herr die glaubhafte
Zusicherung gibt, er werde ihn aus der alten Knechtschaft befreien. Die
Erfolglosigkeit aller bis jetzt geführten Kämpfe um gesellschaftliche Freiheit
hat also ihre Ursache darin, daß sie nie für die Erringung wahrhaft freien
Lebens, für einen positiv von Freiheit durchdrungenen sozialen Zustand geführt
wurden, sondern ihren Ausgang nahmen von der Unerträglichkeit des Bestehenden
und ihr Ziel begrenzten auf die rein negative Befreiung von dieser
Unerträglichkeit.
Das Versprechen: wir werden euch, das Volk, den Staat, die Gesellschaft, die
Menschheit befreien!; die Aufforderung: befreit euch, das Volk, den Staat, die
Gesellschaft, die Menschheit befreien!; die Aufforderung: befreit euch, das
Volk, den Staat, die Gesellschaft, die Menschheit! hat mit Freiheit nur insofern
zu tun, als in diesen Parolen ihr Nichtvorhandensein anerkannt und als Übel
festgestellt wird. Was dagegen aufgestellt wird, beschränkt sich in fast allen
Fällen auf die Ausmalung von Verhältnissen, die sich durch Abwesenheit der Dinge
auszeichnen werden, deren Ausmerzung Sinn der Befreiung sein soll. Umgekehrt
begegnen aber auch die Hüter der befehdeten Einrichtungen, Zustände oder
Gebräuche dem Appell, sich von ihnen zu befreien, mit dem Beweise, daß alles,
was sie ersetzen soll, dem Geiste der Freiheit widerspreche, und die Einen wie
die Anderen lassen die Darstellung der Unfreiheit des Bekämpften als
Überzeugungsgrund dafür gelten, daß die von ihnen gewünschten oder verteidigten
Werte den Charakter der Freiheit trügen. Es bleibt also zu untersuchen, ob der
Begriff der Freiheit als gesellschaftliches Prinzip überhaupt in positiver
Formulierung zu fassen ist und wie die Organisation der Gesellschaft beschaffen
sein müßte, die die Freiheit zum lebensbewegenden Inhalt des menschlichen
Zusammenhalts machen wollte.
Es kann sich hier natürlich nicht um eine philosophische Deutung des
Freiheitsbegriffes handeln, wie sie etwa Schopenhauer in seinen zwei
Grundproblemen der Ethik vornimmt. Allerdings ist auch nicht darauf zu
verzichten, das gesellschaftliche Problem der Freiheit als ein Problem der Ethik
zu betrachten. Doch ist es nur deswegen nicht überflüssig, die Notwendigkeit
solcher Betrachtung aus ethischen Gesichtspunkten besonders zu betonen, weil
leider die Behandlung gesellschaftlicher Fragen als Fragen vorwiegend sittlicher
Natur längst nicht mehr überall als selbstverständlich zu gelten scheint.
Vermehrte gesellschaftliche Freiheit wird dazu helfen, das Primat der Ethik für
alle auf die Beziehung der Menschen zu einander gerichteten Erörterungen
sicherzustellen. Hiermit ist aber schon gesagt, daß der gesellschaftlich
genommene Freiheitsbegriff auch keineswegs schlechthin als politischer Wert
aufgefasst werden darf. Zwar wirkt sich bestehende und mangelnde Freiheit
wesentlich politisch aus, in dem weiten Sinne nämlich, daß alle Herrschaft, auch
wirtschaftlicher Macht, politisch gefügt sein muß, um sich zu erhalten. Aber
Politik betrifft in viel zu enger Weise wandelbare Einrichtungen und auf
Widerruf statuierte Bindungen, als daß ein Ewigkeitsprinzip menschlicher
Verständigung sich in ihren Methoden verwirklichen ließe.
Die zu lösende Frage ist diese: Der Mensch strebt nach Erfüllung seiner
individuellen Möglichkeiten. Er will seinen einmaligen, von allen anderen
Menschen unterschiedenen Charakter mit den darin begründeten Fähigkeiten,
Neigungen, Kräften, Leistungs- und Genußanlagen unabhänig von auferlegtem Zwange
frei entwickeln und verwerten. Diese Unabhängigkeit, die Selbstbestimmung und
Selbstverantwortung in sich schließt, ist seine Vorstellung von Freiheit; ohne
sie kann es keine Freiheit für ihn geben. Die Menschen aber sind auf ihre Arbeit
angewiesen und zwar jeder auf die Arbeit aller, alle auf die Arbeit eines jeden.
Infolgedessen ist die Gemeinschaftsaufgabe jeder Gesellschaft, die sogenannte
soziale Frage zu lösen, d.h. Arbeit, Verteilung und Verbrauch so zu
organisieren, daß Leistung und Verwendung in das richtige Verhältnis zum Ertrage
der Erde gebracht werden. Unter gesellschaftlicher Freiheit wird nun gemeinhin
verstanden, daß die Organisation der gemeinsamen Arbeit der Willkür und dem
Nutzen Einzelner entzogen und der Gesamtheit des produzierenden und
konsumierenden Volkes übertragen werde. Ist nun - und das entscheidet, ob die
Freiheit als gesellschaftliches Prinzip bestehen kann, - eine Regelung der
menschlichen Beziehungen erreichbar, bei der das Höchstmaß verbundenen
Werteschaffens zum Nutzen aller und unter Ausschaltung der Willkür Einzelner
geleistet wird, - und gleichzeitig die Persönlichkeit zur vollen Entwicklung
ihrer Fähigkeiten, zum vollen Ausleben ihrer Kräfte, zur vollen Befriedigung
ihrer Bedürfnisse gelangen kann?
Der marxistische Sozialismus bejaht mit Entschiedenheit die Lösbarkeit der
sozialen Frage, also die Organisierbarkeit der Arbeit in der Form, daß der
Ertrag jeder Leistung dem Leistenden selber zugute kommt. Er postuliert dazu -
und darin begegnen sich alle Lehren des Sozialismus - die Vergesellschaftung des
Grundes und Bodens und der Produktionsmittel, sohin die Beseitigung des
Herrentums über die Arbeitskraft anderer Menschen. Ohne Zweifel ist hier eine
Voraussetzung nicht nur kollektiver, sondern auch individueller Freiheit
erfüllt. Doch beschränkt sich der Marxismus auf die Forderung der ökonomischen
Gleichstellung der Menschen. Marx und Engels, denen Lenin hierin folgt, stellen
zwar als letztes Endziel und schließlich Folgerung der sozialisierten Wirtschaft
die Überwindung des Staates und die Vollendung des freiheitlichen Kommunismus
hin, wonach jeder nach seinen Fähigkeiten schaffen, jeder nach einem Bedarf
verbrauchen soll, doch gelangt bei ihnen die freiheitliche Zielsetzung nirgends
über hypothetische Hindeutungen hinaus. Ihre Theorien erschöpfen sich in
wirtschaftlichen Analysen der bestehenden und anzustrebenden Produktionsformen
und gewähren der Darstellung der Freiheit als gesellschaftliche Grundeigenschaft
so gut wie keinen Raum.
Die nichtsozialistischen Gesellschaftslehren, soweit sie dem Worte Freiheit
höheren Wert als nur den einer Werbeformel beimessen, gehen von der bekannten
Behauptung des Malthusischen Gesetzes aus, daß der Ertrag der Erde niemals
gleichen Schritt halten könne mit der Vermehrung der Bevölkerung und daher der
volle Genuß des Lebens von Natur wegen einer bevorzugten Schicht vorenthalten
sei. Der Satz des Malthus ist so oft und so gründlich widerlegt worden, ist
zumal durch die Kulturmethoden der intensiven Landbewirtschaftung auch praktisch
so vollkommen entwertet, daß von ihm kaum mehr etwas anderes übrig geblieben ist
als die Freiheitsformel des liberalistischen Kapitalismus vom freien Spiel der
Kräfte. Selbstverständlich findet hier, wo nur die ungestörte Konkurrenz
zwischen bevorrechtigten Besitzenden gemeint ist, der Begriff der
gesellschaftlichen Freiheit keine Anwendung, noch auch da, wo sich die
Freiheitsforderung mit nationalen, rassemäßigen, konfessionellen oder
Standesegoismen identifiziert. Das Vorhandensein von Herrschergewalt
irgendwelcher Art, sei es in Form wirtschaftlicher Vormacht, sei es in Form
politischer Obrigkeit oder sonstwelchen Privilegien ist mit dem Gedanken der
gesellschaftlichen Freiheit schlechterdings unvereinbar, und eine Freiheit,
welche sowohl dem Individuum seine Unabhängigkeit als der Gesamtheit ihre
Entfaltungsmöglichkeiten läßt, kann nicht bestehen, wo verhängte Dienstpflicht,
Autorität, Regierung und Staat besteht. Will auch der Liberalismus dem Staat den
Eingriff in die Selbstbestimmung der Wirtschaft verwehren und nennt die
Fernhaltung der politischen Obrigkeit vom Konkurrenzkampf der Ökonomie mit dem
Namen der Freiheit, so setzt diese Lehre doch zugleich die Unterwerfung der
Arbeit unter den Besitz voraus, und will der Staatssozialismus im Gegenteil das
Gesetz regierender Organe zum Regulativ der Wirtschaft und des Verhaltens der
Menschen zu einander machen, so scheidet er eben das Individuum aus der
Festsetzung der eigenen Lebensformen aus. Der Begriff der gesellschaftlichen
Freiheit ist in keinem dieser Fälle anwendbar.
Der grundlegende Irrtum aller Lehren, die bei Erhaltung des Autoritätsprinzips
die Freiheit glauben fördern zu können, beruht auf der Verwechslung der Begriffe
Regierung und Verwaltung. Worauf es bei einer Neuorganisation der Gesellschaft
im Geiste der Freiheit ankommt, hat Michael Bakunin in die klare Formel gefaßt:
Nicht Menschen regieren, sondern Dinge verwalten! Die Aufgabe derer, die
Freiheit zum gesellschaftlichen Prinzip erheben wollen, besteht demnach darin,
das gemeinsame Wirtschaften der aufeinander angewiesenen Menschen von der
Leistung einer Gehorsamkeitspflicht gegen empfangene Befehle zur Erfüllung eines
Kameradschaftsdienstes auf Gegenseitigkeit zu machen. Nichts ist verkehrter als
die Meinung, der Mensch arbeite nur unter der Peitsche der Kommandogewalt. Im
Gegenteil: die Unlust an der Arbeit, die vielfach schon für eine
schicksalsgegebene menschliche Eigenschaft gehalten wird, hat ihren einzigen
Ursprung im Gefühl, unter dem Zwange regierender Befehlshaber auferlegte Arbeit
zu tun. Wo das Bewußtsein lebendig ist, daß Mensch sein Kamerad sein bedeutet
und daß Kameradschaft ebenso notwenig ist zur Befriedigung der Lebensnotdurft
wie zum Genuß der Freude und zum Ertragen des Leides, da kann der Gedanke keine
Stätte haben, der die Beschaffung von Nahrung, Bekleidung und Behausung glaubt
von obrigkeitlicher Satzung und aufpassender Disziplinargewalt. Nicht einmal
darauf kommt es an, daß die Obrigkeit auf demokratischem Wege eingesetzt ist,
sondern darauf, daß es keine Obrigkeit gibt und alle gesellschaftliche Funktion
Funktion der Kameradschaft ist. Demokratie ist nur das technische Verfahren, in
dem die Regierten ihre Regierer selbst einsetzen. Das demokratische Verfahren
aber setzt wie jedes andere Regierungssystem voraus, daß die notwendigen Dinge
der Gesellschaft nur verrichtet würden, wenn die Menschen unter Zwang gehalten
werden. Diese Voraussetzung trifft indessen nur zu, solange Arbeit geleistet
werden muß, deren gesellschaftlichen Wert der Arbeitende nicht erkennt und deren
Ertrag nicht ihm noch der Gesamtheit, sondern einem fremden Gewinn- oder
Machtzweck zufällt.
Somit deckt sich der Begriff der gesellschaftlichen Freiheit nahezu vollständig
mit dem der allgemeinen Kameradschaft unter den Menschen und es erhebt sich die
Frage aller Fragen, ob und in welcher Weise diese Kameradschaft zum bestimmten
Antrieb des gemeinnützigen Tuns aller gemacht werden kann. Dieser Frage ist
Peter Kropotkin in seinem schönen Werk über die gegenseitige Hilfe in der Tier-
und Menschenwelt wissenschaftlich nachgegangen und kommt nicht nur zur Bejahung
der Frage, sondern zu dem Ergebnis, daß die Solidarität eine naturgegebene
Eigenschaft aller lebenskräftigen Geschöpfe ist. Alle kameradschaftlich lebenden
Tiere gründen ihr Gemeinschaftsdasein ausschließlich auf die natürliche
Veranlagung zur kameradschaftlichen Brüderlichkeit, die, wie Kropotkin
eindringlich dartut und wie Darwin bestätigt, die den Kampf der Arten
gegeneinander ergänzende Lebensform zur Erhaltung der Arten darstellt. Die
Jagdgemeinschaften der Wölfe sind ebenso wie die Massenwanderungen des Damwildes
zur Auffindung fruchtbarer Wohngebiete Beispiele in Freiheit organisierten
gesellschaftlichen Lebens. Hier wirkt kein Staat, also keine zentrale
Regierungsmaschinerie, sondern Anarchie, deren Wesen Gustav Landauer als Ordnung
durch Bünde der Freiwilligkeit kennzeichnet. In dem philosophischen
Ergänzungswerk zu seiner naturwissenschaftlichen Arbeit über die Gegenseitige
Hilfe, in der "Ethik" setzt aber Kropotkin den Begriff vollständig gleich mit
dem der Freiwilligkeit, wie er die Begriffe Gerechtigkeit und Gleichheit mit dem
der Gleichberechtigung gleichsetzt. Durch diese klaren Deutungen der im
allgemeinen Gebrauch reichlich verwaschenen Worte Freiheit und Gleichheit füllt
sich ihr Wert mit jedem Mißverständnis entrücktem sozialen Inhalt. Zugleich
jedoch leuchtet ein, daß Goethes immer wieder angezogene Äußerung, wo Gleichheit
sei, könne keine Freiheit bestehen, vor der rechten Würdigung beider Begriffe
nicht standhält. Im Gegenteil: Freiheit, als Freiwilligkeit jeder Leistung im
Zusammenklang der Gesellschaft erfaßt, ist nur vorstellbar, wo Gleichheit im
Sinne von Gleichberechtigung gilt. Gleichberechtigung aller in der menschlichen
Gesellschaft aber bedingt Einheitlichkeit der wirtschaftlichen Voraussetzungen,
unter denen die Menschen ins Leben treten und ihre Gaben und ihre Persönlichkeit
zum eigenen Vorteil und zum Nutzen der Gesamtheit entfalten zu können. Diese
Voraussetzungen scheinen nur im Sozialismus gegeben zu sein, wobei die Frage, ob
der kollektivistische oder der kommunistische Sozialismus vorzuziehen sei,
Zukunftssorge sein mag, die Erkenntnis hingegen, daß es staat- und
herrschaftsloser Sozialismus sein muß, Bedingung gesellschaftlicher Freiheit
ist. Goethe wollte mit seiner Behauptung die liberalistische Formel der
französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" als leer tönende
Redensart verdammen. Wenden wir diese Formel in der Bedeutung an: Freiwilliges
Schaffen gleicberechtigter Individuen im Dienste gegenseitiger Hilfe, so
erhalten wir das soziale Programm einer Menschengemeinschaft, in der die
Freiheit das gesellschaftliche Prinzip ist.
Eine solche Auffassung widerspricht nicht, sondern bestätigt Goethes
Lebensideal: Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit! Denn
Persönlichkeit kann wertvolle Eigenschaften niemals losgelöst von der
gesellschaftlichen Gesamtheit entfalten. Ja, Persönlichkeit und Gesellschaft
können von jeder freiheitlichen Perspektive gesehen, nur als vollkommene Einheit
begriffen werden. Die auf der Kameradschaft gleichberechtigter Menschen
errichtete freie Gesellschaft ist ein Organismus, dem alle Elemente der
Persönlichkeit innewohnen mit Einschluß selbst des individuellen
Empfindungslebens, während jeder Mensch, der unter natürlichen, das heiß
freiheitlichen Umständen lebt, sich nicht nur als Glied der gesellschaftlichen
Kette, als Rädchen im Riesenapparat des gesellschaftlichen Geschehens fühlt,
sondern durchaus als identisch mit der Gesamtheit, die für ihn genau so
lebendige Wirklichkeit ist, wie sein eigenes körperliches und seelisches Sein.
Mensch und Gesellschaft können unter freiheitlichen Lebensverhältnissen niemals
in Gegensatz geraten, sie sind gleichwertige, einander ergänzende
Ausdrucksformen desselben Zustands.
Daher ist auch, die Wirklichkeit einer freien Gesellschaft angenommen, die
Freiheit des Einzelnen nicht begrenzt bei der Freiheit aller, wie das die reinen
Individualisten postulieren; vielmehr kann tatsächliche gesellschaftliche
Freiheit gar nicht zur Begrenzung der Freiheit des Einzelnen zwingen, da ja
Freiheit der Persönlichkeit nicht bestände, wo sie im Widerspruch zur
allgemeinen Freiheit wirken wollte. Die Willkür nämlich, die für sich selber
Rechte in Anspruch nimmt, die in der gesellschaftlichen Einheit nicht begründet
sind, hat mit Freiheit gar keine Berührung; sie ist Despotie, die Unfreiheit
voraussetzt, ist somit selber abhängig von der Bereitschaft anderer, sich
Obrigkeit und Befehlsgewalt gefallen zu lassen und würde Gegensätze zwischen
Gesellschaft und Mensch aufreißen, die die Natur nicht geschaffen hat und die
dem Prinzip der Freiheit kraß zuwiderlaufen.
Die Gesellschaft der Freiheit ist ein Organismus, das heißt ein einheitliches
und darum harmonisch schaltendes Lebewesen; das unterscheidet sie vom Staat und
jeder Zentralgewalt, wo ein Mechanismus die Funktionen des organischen Lebens zu
ersetzen sucht und wo nicht die Dinge der Gemeinschaft gemeinsam verwaltet,
sondern die Menschen von anderen Menschen zur Innehaltung von auferlegten
Pflichten zwangsweise angehalten werden. Es genüge hier, die beiden
Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens einander gegenüberzustellen. Das
System der Regierung von oben nach unten, das System der Zentralisation der
Kräfte, hat sich in aller Welt durchgesetzt und bis jetzt, kaum ernstlich
bedrängt, erhalten. Das System der Föderation von unten nach oben, des
Bündniswesens, der Kameradschaft und der Freiheit, dieses System der Ordnung
durch Bünde der Freiwilligkeit muß den Beweis seiner Verwendbarkeit in der
wirklichen Welt aus der grauen Vorzeit der Menschheitsgeschichte und aus den
täglichen Beispielen der uns umgebenden Tierwelt führen. Wer den Glauben an die
Zukunft der Freiheit hat, wird ihn sich durch die Einwendungen der handfest
praktischen Gegenwart nicht rauben lassen.
Von den Mitteln, wie die Menschen zum Zustand der Freiheit gelangen könnten,
soll hier schon gar nicht gesprochen werden, um so weniger als unter den
verschiedenen Richtungen, die auf das gleiche Ziel, darin durchaus keine
Einheitlichkeit der Meinung besteht und Bakunin zum Beispiel weitaus andere Wege
einschlagen wollte als etwa Tolstoi. Wer der Freiheit ergeben ist und den
Gedanken rücksichtslos in sich aufgenommen hat, daß der Mensch frei sein wird,
wenn es die Gesellschaft ist, die Gesellschaft der Freiheit aber nur von
innerlich freien Menschen geschaffen werden kann, der wird bei sich selber und
in seinem nächsten Umkreis mit dem Befreiungswerk beginnen. Er wird niemandes
Knecht sein und wissen, daß nur der kein Knecht ist, der auch niemandes Herr
sein will. Der Mensch ist frei, der allen anderen Menschen die Freiheit läßt und
die Gesellschaft wird frei sein, die kameradschaftlich Gleiche in Freiheit
verbindet.
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