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Michail Bakunin
Das unfassbare Individuum
Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen
hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung der
Ungehorsams, zu dem er sie verleitet; denn sobald sie von der verbotenen Frucht
gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): "Sieh da, der Mensch ist
wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern wir ihn
also, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde
wie Wir."
Lassen wir die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen
wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich
von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine
Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des
Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken. Drei
Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller
gemeinschaftlichen und persönlichen menschlichen Entwicklung in der Geschichte:
die menschliche Animalität, das Denken, die Empörung. Dem ersten entspricht die
soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die
Freiheit.
Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem
Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte als Eigenschaft des
menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den
wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen,
ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren
beständigen Verwandlungen Bleibende, wie ihre materielle, individuelle Seite,
die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig
und unfaßbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht
die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt
ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in
der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der
Wissenschaft, begründet ist.
Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und
die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst
ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen patentierten
Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der
Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der
vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der
Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze
stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit
auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge
Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind.
Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompass des
Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich,
allgemein, abstrakt, gefühllos, wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das
heißt im Gehirn existierende Wiedergabe sie ist - im Gehirn, um uns zu erinnern,
daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs
des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns ist. Das Leben ist ganz
flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und
Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Streben, Bedürfnissen und
Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle
wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt
nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft,
ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen
Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm,
lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von WAGNER, dem
pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus
gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft die ist,
das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten.
Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn
sie sich Positivisten, Schüler AUGUSTE COMTEs, nennen oder selbst Schüler der
doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich,
unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend und verheerend sein. Man kann
von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen
und Metaphysikern sagte: sie haben weder Gefühl noch Herz für persönliche,
lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es
ist die natürliche Folge ihres Berufes. Als Männer der Wissenschaft haben sie
nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche.
Die Wissenschaft, welche nur mit dem zu tun hat, was auszudrücken und beständig
ist, d.h. mit mehr oder weniger entwickelten und bestimmten Allgemeinheiten, muß
sich hier besiegt erklären von dem Leben, das allein in Verbindung steht mit der
lebendigen und empfindlichen, aber unfaßbaren und unsagbaren Seite der Dinge.
Das ist die wirkliche und man kann sagen die einzige Grenze der Wissenschaft,
eine wirklich unüberschreitbare Grenze. Ein Naturforscher, der selbst ein
wirkliches und lebendes Wesen ist, seziert beispielsweise ein Kaninchen; dieses
Kaninchen ist gleichfalls ein wirkliches Wesen und war, wenigstens vor kaum
einigen Stunden, eine lebende Individualität. Nachdem der Naturforscher es
seziert hat, beschreibt er es: Nun, das Kaninchen, welches aus seiner
Beschreibung hervorgeht, ist ein Kaninchen im allgemeinen, das, jeder
Individualität beraubt, allen Kaninchen gleicht und deshalb nie die Kraft zu
existieren haben wird, nicht einmal körperlich, sondern eine Abstraktion, der
festgehaltene Schatten eines lebendigen Wesens.
Die Wissenschaft hat nur mit solchen Schatten zu tun. Die lebendige Wirklichkeit
entschlüpft ihr und gibt sich nur dem Leben, das, weil es selbst flüchtig und
vorübergehend ist, immer alles, was lebt, d.h. alles, was vergeht oder flieht,
fassen kann und in der Tat faßt. Das Beispiel des der Wissenschaft geopferten
Kaninchens berührt uns wenig, weil wir uns gewöhnlich für das individuelle Leben
der Kaninchen sehr wenig interessieren. Anders ist es mit dem individuellen
Leben der Menschen, das die Wissenschaft und die Männer der Wissenschaft, welche
gewöhnt sind, unter Abstraktionen zu leben, d.h. flüchtige und lebendige
Wirklichkeiten ihren beständigen Schatten zu opfern, gleichfalls fähig wären, zu
opfern oder wenigsten dem Nutzen ihrer abstrakten Allgemeinheiten unterzuordnen,
wenn man sie nur machen ließe.
Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für
die Wissenschaft gleichfalls unfaßbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb
müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen,
um von ihr nicht wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert
zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und
gegen die Rechtswissenschaften verwahren müssen, die alle gleichfalls an jenem
abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilnehmen und das unheilvolle
Streben besitzen, die Individuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern,
die nur mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die
göttliche Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die
Gerechtigkeit.
Ich bin weit davon entfernt, die nützlichen Abstraktionen der Wissenschaft mit
den verderblichen Abstraktionen der Theologie, der Politik und der
Rechtswissenschaft vergleichen zu wollen. Diese letzteren müssen aufhören, zu
herrschen, müssen von Grund auf aus der menschlichen Gesellschaft ausgetilgt
werden - ihr Wert, ihre Befreiung, ihre endgültige Humanisierung sind nur um
diesen Preis möglich - während die wissenschaftlichen Abstraktionen im Gegenteil
ihren Platz einnehmen müssen, nicht um die menschliche Gesellschaft nach dem
freiheitsmörderischen Traum der positiven Philosophen zu regieren, sondern um
ihre natürliche und lebendige Entwicklung zu beleuchten.
Die Wissenschaft kann wohl Anwendung auf das Leben finden, aber nie sich im
Leben verkörpern, weil das Leben die unmittelbare und lebendige Wirkung, die
gleichzeitig natürliche und schicksalsbestimmte Bewegung der lebendigen
Individualitäten ist. Die Wissenschaft ist nur die immer unvollständige und
unvollkommene Abstraktion dieser Bewegung. Wenn sie sich ihm als unbedingte
Lehre, als herrschende Autorität aufzwingen würde, würde sie es arm machen,
verdrehen und lähmen. Die Wissenschaft kann nicht aus ihren Abstraktionen
heraus, sie sind ihr Reich. Aber die Abstraktionen und ihre unmittelbaren
Vertreter: Priester, Politiker, Juristen, Ökonomisten und Gelehrten, müssen
aufhören, die Volksmassen zu beherrschen. Der ganze Fortschritt der Zukunft
liegt darin.
Es ist das Leben und die Bewegung des Lebens, die individuelle und soziale
Wirkung der Menschen, die ihrer vollständigen Freiheit zurückgegeben sind. Er
ist die vollständige Vernichtung des Autoritätsprinzips. Und wie? Durch die
weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volke. Auf diese Weise wird die
soziale Masse, außerhalb sich selbst, keine sogenannte absolute Wahrheit mehr
haben, die sie lenkt und beherrscht, die vertreten ist von Persönlichkeiten,
welche ein großes Interesse daran haben, sie ausschließlich in ihren Händen zu
halten, weil sie ihnen die Macht, und mit der Macht den Reichtum, die
Möglichkeit gibt, durch die Arbeit der Volksmassen zu leben. Diese Masse wird
aber in sich selbst eine immer relative, aber wirkliche Wahrheit, ein Licht
haben, welches ihre natürliche Bewegung erhellt und jede Autorität und jede
äußere Leitung unnötig machen wird.
Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher
ist, daß kein Gelehrter heute wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu
behandeln, muß man doch stets fürchten, daß die Gelehrten als Körperschaft
lebende Menschen wissenschaftlichen Versuchen unterwerfen, die für die Opfer
gewiß weniger grausam, aber nicht weniger schädlich sein würden. Wenn die
Gelehrten an den Körpern einzelner Menschen nicht experimentieren können, werden
sie verlangen, am sozialen Körper Versuche zu machen, was man unbedingt
verhindern muß.
In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als
solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine
abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die
wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen
Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten
Opferpriester. Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht
verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die
zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber
durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht
im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in ihrer Einbildung
das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst
individualisiert gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und
erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren
Schaffung in ihrer Welt liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die
lebenden, wirklichen Individualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und
vergehen. Die Kunst ist also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion
zum Leben. Die Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen,
vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.
Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen, wie die
eines Kaninchens erfassen. Das heißt sie steht beiden gleich uninteressiert
gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie
erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut,
daß alle Tierarten, die Gattung Mensch einbegriffen, nur wirklich existieren als
unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen,
ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen
der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt
und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der
Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und
beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine
Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in
seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern.
Wenn sie nicht durch theologischen oder metaphysischen, politischen und
juridischen Doktrinarismus oder durch wissenschaftlichen Hochmut verdorben und
nicht für die natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß
sie, und das ist ihr letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das oberste
Gesetz der Menschheit ist, und daß das große, das wahre, das einzig rechtmäßige
Ziel der Geschichte die Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche
Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden
Individuums ist. Denn schließlich, wenn man nicht in die freiheittötende
Fiktion, daß der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion,
die stets auf systematische Opferung der Volksmassen begründet ist, muß man
anerkennen, daß kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der
Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.
Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht
weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das
Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann
nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt
sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und Paul, nicht mit
diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren
können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen.
Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen,
lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen
haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen
werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur, wenn sie von wirklichen
Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee,
sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein
Interesse. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer
Entwicklung.
Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von
Peter und Paul? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst
aufheben, wollte sie sich damit anders befassen, als mit einem Beispiel zur
Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein;
denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie
kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit
der Lage und den allgemeinen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit
im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volkes, einer Klasse von
Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und
den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur
diese Aufgabe in weitem, vernünftigen Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht
getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.
Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen,
die sie unfähig ist, durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein
und das Schicksal von Peter und Paul zu übergehen, darf man nie erlauben, daß
sie selbst, oder jemand in ihrem Namen Peter und Paul beherrscht. Denn sie wäre
wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt.
Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie außer Acht zu lassen, ihre patentierten
Vertreter aber, die durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit
sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluß nachgeben, den
jedes Vorrecht unvermeidlich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im
Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben
und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juridischen Rechts sie
bis jetzt geschunden haben. Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen
Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die
Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören - dies wäre
ein Verbrechen an der Menschheit -, sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den
sie nie wieder verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der
Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer
menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland,
Staatsmacht, nationale Ehre, geschichtliche Rechte, juridische Rechte,
politische Freiheit, öffentliches Wohl.
Solcher Art war bis jetzt die natürliche, freiwillige, unvermeidliche Bewegung
der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es,
was die Vergangenheit betrifft, annehmen, wie wir alles natürliche Unheil
annehmen. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg zu Erziehung des
Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: selbst wenn man den
macchiavellischen Künsten der herrschenden Klassen den größten Anteil
zuschreibt, müssen wir anerkennen, daß keine Minderheit mächtig genug gewesen
wären, all diese schrecklichen Opfer der Massen selbst eine freiwillige,
schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sie immer von neuem
einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der
Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten.
Daß die Theologen, Politiker und Juristen diese sehr schön finden, ist klar. Als
Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der
Volksmassen. Ebensowenig darf man erstaunen, wenn auch die Metaphysik ihre
Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Aufgabe ist ja, das Unbillige und das
Unsinnige zu rechtfertigen und möglichst vernünftig erscheinen zu lassen. Daß
aber selbst die positive Wissenschaft bis jetzt das gleiche Bestreben zeigte,
müssen wir feststellen und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun:
einmal, weil sie, außerhalb des Volkslebens stehend, von einer bevorrechteten
Körperschaft vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als
absolute und letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat,
während sie auf Grund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie
sich letzten Endes gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sein wird, hätte
verstehen müssen, daß sie nur ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung eines
viel höheren Zweckes ist: das der vollständigen Humanisierung der wirklichen
Lage aller wirklichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und
sterben.
Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik,
Politik und dem juridischen Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen
Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre
Abstraktionen aufstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der
Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer
Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie scharf von allen vorhergehenden Lehren
und wird ihr immer eine große Stellung in menschlichen Gesellschaften sichern.
Sie wird in gewissermaßen deren kollektives Bewußtsein bilden. Andererseits aber
schließt sie sich all diesen Lehren vollständig an: dadurch, daß sie als
Gegenstand nur Abstraktionen hat und haben kann, und durch ihr Wesen gezwungen
ist, die wirklichen Individuen außer Acht zu lassen, außerhalb welcher selbst
die richtigsten Abstraktionen keine wirkliche Existenz haben.
Um diesen wesentlichen Fehler zu beheben, müßte sich das praktische Vorgehen der
vorgenannten Lehren und das der positiven Wissenschaft in folgendem
unterscheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Massen, um sie mit Wollust
ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre Vertreter stets sehr
einträglich sind. Letztere muß in Erkenntnis ihrer absoluten Unfähigkeit, die
wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren,
endgültig und unbedingt auf die Regierung der Gesellschaft verzichten; denn wenn
sie sich um dieselben kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets
die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die
den einzigen sie wirklich beschäftigenden Gegenstand bilden.
Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt
kaum heutzutage sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine
Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: was wird
sie uns geben können? Sie wird das treue wohldurchdachte Bild der natürlichen
Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen,
politischen und sozialen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften
geben, welche eine Geschichte gehabt haben.
Aber dies allgemeine Bild der menschlichen Kultur, wie sehr es auch in die
Einzelheiten gehen mag, wird stets nur eine allgemeine und folglich abstrakte
Würdigung erhalten können in dem Sinn, daß die Milliarden menschlicher
Individuen, welche den lebenden und leidenden Stoff dieser Geschichte bilden,
die zugleich Stoff dieser Geschichte bilden, die zugleich triumphierend und
trostlos ist - triumphierend im Hinblick auf ihre allgemeinen Ergebnisse,
trostlos mit Hinsicht auf die ungeheure, "unter ihrem Wagen erdrückte" Hekatombe
menschlicher Opfer -, daß diese Milliarden schattenhafter Individuen, ohne
welche aber keines dieser großen abstrakten Resultate der Geschichte erreicht
worden wäre und die, wohlbemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Ergebnisse
hatten -, daß diese Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der
Geschichte finden würden. Sie lebten und wurden zum Wohl der abstrakten
Humanität geopfert und vernichtet.
Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre
lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfaßbar für das Denken, die
Überlegung, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstraktionen auszudrücken
fähig ist, unfaßbar in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Auch die
Sozialwissenschaft, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notgedrungen
fortfahren, sie nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Wir haben nur
das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie uns mit fester und treuer Hand die
allgemeinen Ursachen der persönlichen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen
wird sie gewiß die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden
Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten nicht vergessen, und sie möge
uns gleichzeitig die allgemeinen Bedingungen der wirklichen Befreiung der
lebenden Individuen in der Gesellschaft zeigen.
Dies ist ihre Aufgabe, dies sind auch ihre Grenzen, außerhalb welcher die
Tätigkeit der Sozialwissenschaft nur ohnmächtig und verhängnisvoll sein könnte.
Denn jenseits dieser Grenzen beginnen die doktrinären und Regierungsansprüche
ihrer patentierten Vertreter, ihrer Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen
Päpsten und Priestern ein Ende zu machen: wir wollen keine mehr, selbst wenn sie
sich sozialistische Demokraten nennen würden.
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