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Michail Bakunin
Gott und der Staat
Wer hat recht, die Idealisten oder die Materialisten? Wenn die Frage einmal so
gestellt wird, wird ein Zaudern unmöglich. Ohne jeden Zweifel haben die
Idealisten unrecht und nur die Materialisten haben recht. Jawohl, die Tatsachen
gehen den Ideen voran, jawohl, das Ideal ist, wie Proudhon sagte, nur eine
Blume, deren Wurzel die materiellen Existenzbedingungen bilden. Jawohl, die
ganze geistige und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit
ist ein Reflex ihrer wirtschaftlichen Geschichte.
Alle Zweige moderner, gewissenhafter und ernster Wissenschaft wirken zusammen,
diese große, diese grundlegende und entscheidende Wahrheit zu verkünden: Jawohl,
die soziale Welt, die menschliche Welt im eigentlichen Sinne, die Menschheit mit
einem Wort ist nichts anderes als die - für uns und unseren Planeten wenigstens
- letzte und oberste Entwicklung, der höchste Ausdruck der Animalität. Da aber
jede Entwicklung notwendig eine Verneinung einschließt, nämlich die Verneinung
ihrer Grundlage oder ihres Ausgangspunktes, ist die Menschheit zugleich und vor
allem die bewußte und fortschreitende Verneinung der tierischen Natur in den
Menschen, und gerade diese ebenso vernünftige wie natürliche Verneinung, die nur
vernünftig ist, weil sie natürlich ist, geschichtlich und logisch wie die
Entwicklungen und Produkte aller Naturgesetze, gerade diese Verneinung bildet
und schafft das Ideal, die Welt der geistigen und moralischen Überzeugungen, die
Ideen.
Ja, unsere ersten Vorfahren, unsere Adams und Evas waren, wenn nicht Gorillas,
doch sehr nahe Verwandte des Gorilla, Omnivore, intelligente und wilde Tiere,
die in unendlich höherem Grade als alle anderen Tierarten die zwei wertvollen
Fähigkeiten besaßen: die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis,
sich zu empören. Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes
Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die
verneinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und
schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht.
Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn man sie
als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen menschlicher Weisheit und Phantasie
betrachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem Mythos von der Erbsünde
aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiß der
eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste
und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus man
weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel um seine Langeweile zu
vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muß,
oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze
Erde mit all ihren Früchten und Tieren zur Verfügung, wobei er diesem
vollständigen Genuß nur eine einzige Grenze setzte. Er verbot ihnen
ausdrücklich, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Er wollte also, daß
der Mensch, allen Bewußtseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem
ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn Untertan. Aber da kam Satan, der ewige
Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich
seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und
drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn
antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen.
Man weiß, was folgte. Der Herrgott, dessen Voraussicht, eine seiner göttlichen
Eigenschaften, ihm hätte sagen müssen, daß dies so kommen würde, geriet in
schreckliche und lächerliche Wut: Er verfluchte Satan und die von ihm selbst
geschaffenen Menschen und die Welt, sich gewissermaßen selbst in seiner eigenen
Schöpfung schlagend, wie dies Kinder im Zorn zu tun pflegen, und sich nicht
begnügend, unsere Vorfahren in der Gegenwart zu treffen, verfluchte er sie in
allen künftigen Generationen, die an dem Verbrechen ihrer Vorfahren doch
unschuldig sind. Unsere katholischen und protestantischen Theologen finden das
sehr tief und sehr gerecht, gerade weil es ungeheuer unbillig und unsinnig ist!
Dann erinnerte er sich, daß er nicht nur ein Gott der Rache und des Zorns,
sondern auch ein Gott der Liebe sei, und nachdem er einige Milliarden armer
menschlicher Wesen während ihres Lebens gequält und sie zu ewiger Höllenqual
verdammt hatte, erbarmte er sich der übrigen, und um sie zu retten, um seine
ewige und göttliche Liebe mit seinem ewigen und göttlichen, immer opfer- und
blutgierigen Zorn zu versöhnen, schickte er als Sühnopfer seinen einzigen Sohn
auf die Erde, damit er von den Menschen getötet würde. Dies nennt man das
Geheimnis der Erlösung, welches die Grundlage aller christlichen Religionen
bildet. Und wenn wenigstens noch der göttliche Retter die Welt der Menschen
gerettet hätte! Mitnichten; in dem von Christus versprochenen Paradies wird es,
wie man durch ausdrückliche Ankündigung weiß, nur sehr wenige Auserwählte geben.
Die übrigen, die ungeheure Mehrheit der gegenwärtigen und künftigen
Generationen, werden ewig in der Hölle braten. Inzwischen liefert der stets
gerechte, stets gute Gott zu unserem Trost die Erde den Regierungen der Napoleon
III. und Wilhelm I., der Ferdinand von Österreich und der Alexander von Rußland
aus.
Das sind die unsinnigen Geschichten und ungeheuerlichen Lehren, die man mitten
im neunzehnten Jahrhundert in allen Volksschulen Europas auf den ausdrücklichen
Befehl der Regierungen erzählt und lehrt. Das nennt man die Völker zivilisieren!
Liegt es nicht auf der Hand, daß all diese Regierungen die systematischen
Vergifter, die eigennützigen Verdummer der Volksmassen sind?
Ich ließ mich von meinem Gegenstand abziehen durch den Zorn, der mich stets
packt, wenn ich an die elenden und verbrecherischen Mittel denke, durch die man
die Völker in ewiger Knechtschaft hält, ohne Zweifel um sie besser scheren zu
können. Was sind die Verbrechen aller Troppmann der Welt gegenüber diesem
Verbrechen beleidigter Menschheit, das täglich am hellen Tag, auf der ganzen
Fläche der zivilisierten Erde von denen begangen wird, die sich Schützer und
Väter der Völker zu nennen wagen? - Ich kehre zum Mythos von der Erbsünde
zurück.
Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen
hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des
Ungehorsams, zu dem er sie verleitet hatte; denn sobald sie von der verbotenen
Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): "Sieh' da, der
Mensch ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern
wir ihn also, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich
werde wie Wir.
Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir
seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er
hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er
begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem
Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem
Denken.
Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen
aller gemeinschaftlichen und persönlichen menschlichen Entwicklung in der
Geschichte: 1. die menschliche Animalität; 2. das Denken; 3. die Empörung. Dem
ersten entspricht die soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die
Wissenschaft, dem dritten die Freiheit.(1)
Die Idealisten aller Schulen, die Aristokraten und Bourgeois, Theologen und
Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Geistlichen, Philosophen oder Dichter -
nicht zu vergessen die liberalen Ökonomisten, diese zügellosen Anbeter des
Ideals -, all diese sind sehr verletzt, wenn man ihnen sagt, daß der Mensch, mit
all seiner glänzenden Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und grenzenlosen
Bestrebungen, wie alles auf der Welt, nichts als Materie, nichts als ein Produkt
dieser widrigen Materie ist.
Wir könnten ihnen erwidern, daß die Materie, von welcher die Materialisten
sprechen, - eine spontane, ewig bewegliche, tätige, produktive Materie, chemisch
und organisch bestimmt und in Erscheinung tretend entsprechend den ihr eigenen
mechanischen, physischen, tierischen und intelligenten Eigenschaften oder
Kräften - nichts mit der niedrigen Materie der Idealisten gemein hat. Letztere,
ein Produkt ihrer falschen Abstraktion, ist tatsächlich ein dummes, unbelebtes,
unbewegliches, zu allem unfähiges Ding, ein toter Rückstand, eine häßliche
Einbildung, jener schönen Einbildung gegenübergestellt, die sie Gott, das
höchste Wesen nennen, demgegenüber die Materie, die Materie der Idealisten, von
ihnen selbst all dessen beraubt, was ihre wirkliche Natur ausmacht, notwendig
das höchste Nichts darstellt. Sie nahmen der Materie die Intelligenz, das Leben,
alle bestimmenden Eigenschaften, tätigen Beziehungen oder Kräfte, selbst die
Bewegung, ohne welche die Materie nicht einmal Gewicht hätte, und ließen ihr nur
die Undurchdringlichkeit und die unbedingte Bewegungslosigkeit im Raum; sie
legten all diese Kräfte, Eigenschaften und natürlichen Äußerungen dem von ihrer
abstrahierenden Phantasie geschaffenen eingebildeten Wesen bei; dann nannten
sie. mit Vertauschen der Rollen, dieses Produkt ihrer Einbildung, dieses
Phantom, diesen Gott, der das Nichts ist, "das höchste Wesen", und erklärten mit
notwendiger Konsequenz, daß das wirkliche Wesen, die Materie, die Welt das
Nichts sei. Und dann sagen sie uns mit ernster Miene, daß diese Materie unfähig
sei, etwas hervorzubringen, ja nicht einmal fähig, sich von selbst in Bewegung
zu setzen, und daß sie folglich von ihrem Gott erschaffen sein müsse.In dem
Anhang am Ende dieses Buches deckte ich die wahrhaft empörenden Unsinnigkeiten
auf, zu denen man unvermeidlich geführt wird durch die Einbildung eines Gottes,
sei es eines persönlichen, der Welten schafft und organisiert, sei es selbst
eines unpersönlichen, der als eine Art im ganzen Weltall verbreitete göttliche
Seele angesehen wird, die das ewige Prinzip des Weltalls bilden würde, sei es
einer unendlichen und göttlichen Idee, die immer anwesend und tätig ist und sich
stets in der Gesamtheit der materiellen und endlichen Wesen äußert. Ich will
mich hier auf die Hervorhebung eines einzigen Punktes beschränken.
Die allmähliche Entwicklung der materiellen Welt ist vollkommen faßbar, ebenso
wie die des organischen, tierischen Lebens und die der im Lauf der Geschichte
fortschreitenden individuellen und sozialen Intelligenz des Menschen auf dieser
Welt. Sie ist eine ganz natürliche Bewegung vom Einfachen zum Zusammengesetzten,
von unten nach oben oder von dem Niedrigeren zu dem Höheren, eine all unseren
täglichen Erfahrungen und daher auch unserer natürlichen Logik, den Gesetzen
unseres Geistes entsprechende Bewegung, dieser nur aufgrund dieser selben
Erfahrungen entstehenden und sich entwickelnden Logik, die sozusagen nur deren
Wiedergabe oder bewußte Zusammenfassung im Gehirn ist.
Das System der Idealisten bietet uns das gerade Gegenteil. Es stürzt alle
menschlichen Erfahrungen und den allgemeinen gesunden Menschenverstand absolut
um, der doch die wesentliche Bedingung alles Verständnisses unter den Menschen
ist, der von der so einfachen und einstimmig anerkannten Wahrheit, daß zwei mal
zwei vier ist, sich bis zu den erhabensten und kompliziertesten
wissenschaftlichen Betrachtungen erhebt, ohne je etwas durch Erfahrung oder
Betrachtung der Dinge nicht streng Bestätigtes zuzugeben, und so die einzige
ernstliche Grundlage menschlicher Kenntnisse bildet.
Statt dem natürlichen Weg von unten nach oben zu folgen, vom Niedrigen zum
Höheren, vom relativ Einfachen zum Zusammengesetzten, statt klug und verständig
die tatsächliche fortschreitende Bewegung von der anorganisch genannten Welt zur
organischen, Pflanzen-, dann Tierwelt, dann speziell menschlichen Welt zu
begleiten und die Bewegung der chemischen Materie oder des chemischen Wesens zur
lebenden Materie oder dem lebenden Wesen und vom lebenden zum denkenden Wesen,
statt dessen schlagen die idealistischen Denker, von dem von der Theologie
ererbten göttlichen Phantom besessen, verblendet und angetrieben, den ganz
entgegengesetzten Weg ein. Sie gehen von oben nach unten, vom Höheren zum
Niedrigeren, vom Zusammengesetzten zum Einfachen. Sie beginnen mit Gott, sei es
als Person, sei es als göttliche Substanz oder Idee, und ihr erster Schritt ist
ein schrecklicher Fall von den erhabenen Höhen des ewigen Ideals in den Schlamm
der materiellen Welt, von der absoluten Vollkommenheit zur absoluten
Unvollkommenheit, von dem Gedanken vom Wesen, oder vielmehr vom höchsten Wesen,
zum Nichts. Wann, wie und warum das göttliche, ewige, unendliche Wesen, das
absolut Vollkommene, wahrscheinlich von sich selbst gelangweilt, sich zu diesem
verzweifelten Salto mortale entschloß, das hat kein Idealist, Theologe,
Metaphysiker oder Dichter je selbst zu verstehen gewußt, noch es den Ungläubigen
erklären können. Alle vergangenen und gegenwärtigen Religionen und alle
übersinnlichen philosophischen Systeme drehen sich um dieses einzige und
frevelhafte Geheimnis.(2) Heilige Männer, erleuchtete Gesetzgeber, Propheten und
Erlöser suchten darin das Leben und fanden darin nur Folter und Tod. Es
verzehrte sie, wie die antike Sphinx, weil sie es nicht zu erklären wußten.
Große Philosophen, von Heraklit und Plato bis Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant,
Fichte, Schelling und Hegel, ohne der indischen Philosophen zu gedenken,
schrieben Haufen von Büchern und schufen ebenso scharfsinnige wie erhabene
Systeme, in denen sie nebenbei viele schöne und große Dinge sagten und
unsterbliche Wahrheiten entdeckten, die aber dieses Geheimnis, den
Hauptgegenstand ihrer übersinnlichen Forschungen, ebenso unergründet ließen, wie
es vor ihnen gewesen war. Da aber die gigantischen Anstrengungen der
bewunderungswürdigsten Genies, welche die Welt kennt, die seit wenigstens
dreißig Jahrhunderten immer von neuem diese Sisyphusarbeit unternahmen, nur dazu
führten, dieses Geheimnis noch unverständlicher zu machen, können wir da hoffen,
daß es uns heute durch die handwerksmäßige Spekulation irgendeines pedantischen
Schülers einer künstlich aufgewärmten Metaphysik enthüllt werde, und das zu
einer Zeit, in der alle lebendigen und ernsten Geister sich von dieser
zweifelhaften Wissenschaft abgewendet haben, die das Ergebnis eines
geschichtlich gewiß erklärlichen Vergleichs zwischen der Unvernunft des Glaubens
und der gesunden wissenschaftlichen Vernunft ist?
Es ist augenscheinlich, daß dieses schreckliche Geheimnis unerklärbar ist, das
heißt, daß es unsinnig ist, weil das Unsinnige allein sich nicht erklären läßt.
Es ist augenscheinlich, daß, wer dasselbe zu seinem Glück, zu seinem Leben
braucht, auf seine Vernunft verzichten und, wenn er kann, zum naiven, blinden,
dummen Glauben zurückkehrend, mit Tertullian und allen aufrichtigen Gläubigen
die Worte wiederholen muß, welche die wahre Quintessenz der Theologie enthalten:
Credo quia absurdum (Ich glaube, weil es absurd ist). Dann hört jede Erörterung
auf und es bleibt nur die triumphierende Dummheit des Glaubens. Aber eine andere
Frage erhebt sich dann sofort: Wie kann in einem intelligenten und
unterrichteten Menschen das Bedürfnis entstehen, an dieses Geheimnis zu glauben?
Nichts ist natürlicher, als daß der Glaube an Gott, den Schöpfer, Organisator,
Richter, Herren, Verflucher, Retter und Wohltäter der Welt sich im Volk erhalten
hat, und zwar vor allem bei der Landbevölkerung viel mehr als beim städtischen
Proletariat. Das Volk ist leider noch sehr unwissend und wird in seiner
Unwissenheit erhalten durch die systematischen Anstrengungen aller Regierungen,
welche diese Unwissenheit sehr begründeterweise für eine der wichtigsten
Bedingungen ihrer eigenen Macht halten. Von der täglichen Arbeit erdrückt, der
Muße, des geistigen Verkehrs, der Lektüre, kurz aller Mittel und der meisten
Antriebe beraubt, welche das menschliche Denken entwickeln, nimmt das Volk meist
ohne Kritik und in Bausch und Bogen die religiösen Traditionen an, die es von
der frühesten Kindheit an in allen Lebensverhältnissen umgeben und die von einer
Menge offizieller Vergifter aller Art, Priestern und Laien, künstlich in ihm am
Leben erhalten werden, wodurch sie sich in ihm in eine Art geistiger und
moralischer Gewohnheit verwandeln, die nur zu oft viel mächtiger ist, als sein
natürlicher gesunder Menschenverstand.
Noch eine andere Ursache erklärt und rechtfertigt in gewissem Grade den
unsinnigen Glauben des Volkes. Dies ist die elende Lage, zu der es durch die
bestehende Gesellschaftsordnung in den zivilisiertesten Ländern Europas
unabänderlich verurteilt ist. In geistiger und moralischer wie in materieller
Hinsicht auf ein Minimum menschlicher Existenz eingeschränkt, in seine
Lebensweise eingesperrt wie ein Gefangener in den Kerker, ohne Ausblick, ohne
Ausweg, sogar ohne Zukunft, wenn man den Ökonomisten glauben will, müßte das
Volk die merkwürdig enge Seele und den niedrigen Instinkt der Bourgeois haben,
wenn es nicht das Bedürfnis empfinden würde, aus diesen Verhältnissen
herauszukommen; dazu gibt es aber nur drei Mittel, zwei phantastische und ein
wirkliches. Die beiden ersteren sind das Wirtshaus und die Kirche, körperliche
oder geistige Ausschweifung; das dritte ist die soziale Revolution. Ich schließe
daraus, daß letztere allein, viel mehr wenigstens als alle theoretische
Propaganda der Freidenker, imstande sein wird, den religiösen Glauben und die
Ausschweifungsgewohnheiten im Volk bis zu ihren letzten Spuren zu zerstören,
einen Glauben und Gewohnheiten, die viel enger miteinander verknüpft sind, als
man gemeinhin glaubt; durch Ersatz der gleichzeitig trügerischen und niedrigen
Genüsse dieser körperlichen und geistigen Zügellosigkeit durch die ebenso feinen
wie wirklichen Genüsse der in jedem und in allen sich vollständig entwickelnden
Menschlichkeit wird die soziale Revolution allein die Macht haben, gleichzeitig
alle Wirtshäuser und alle Kirchen zu schließen. Bis dahin wird die Masse des
Volkes glauben und wird dabei, wenn auch nicht die Vernunft, so doch wenigstens
das Recht, dies zu tun, auf seiner Seite haben.
Es gibt eine Menschenklasse, die, wenn sie auch nicht selbst glaubt, sich doch
wenigstens gläubig stellen muß. Das sind alle Folterer, Unterdrücker und
Ausbeuter der Menschheit. Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger,
öffentliche und private Finanziers, Beamte aller Art, Polizisten, Gendarmen,
Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber,
Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Ökonomisten, Politiker aller Farben,
bis zum letzten Philister, alle wiederholen einstimmig die Worte Voltaires: Wenn
es keinen Gott gäbe, müßte man einen erfinden. Denn, ihr versteht, das Volk
braucht eine Religion. Sie ist das Sicherheitsventil.
Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Klasse ehrlicher, aber schwacher
Seelen, die zu intelligent sind, um die christlichen Dogmen ernst zu nehmen und
sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit
haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Unsinnigkeiten der
Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich
verzweifelt an den Hauptunsinn, der die Quelle aller anderen ist, an das Wunder,
das alle anderen Wunder erklärt und rechtfertigt, an das Dasein Gottes. Ihr Gott
ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie.
Er ist ein nebelhaftes, durchsichtiges, trügerisches Wesen, so trügerisch, daß,
wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine
Spiegelung, ein Irrlicht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an
ihm fest und glauben, daß mit seinem Verschwinden alles mit ihm verschwinden
würde. Das sind unentschlossene, krankhafte Seelen, die sich in der heutigen
Kultur nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören,
blasse Phantome, die ewig zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in
derselben Stellung zwischen der Bourgeois-Politik und dem Sozialismus des
Proletariats befinden. Sie fühlen sich nicht stark genug, einen Gedanken bis zu
Ende zu denken, zu wollen und sich zu entschließen, und sie verlieren ihre Zeit
und Mühe damit, immer das Unversöhnliche versöhnen zu wollen. Im öffentlichen
Leben nennt man sie Bourgeois-Sozialisten. Eine Diskussion ist weder mit ihnen
noch gegen sie möglich. Sie sind zu krank.
Es gibt aber eine kleine Zahl ausgezeichneter Männer, von denen niemand ohne
Achtung zu sprechen wagt und deren kräftige Gesundheit, Geistesstärke und guten
Glauben niemand zu bezweifeln sich träumen läßt. Es genügt, Mazzini, Michelet,
Quinet, John Stuart Mill (3) zu nennen. Sie alle sind edle und starke Seelen,
große Herzen, große Geister, große Schriftsteller, besonders was Mazzini, den
heldenhaften und revolutionären Wiedererwecker einer großen Nation, betrifft;
sie alle sind Vertreter des Idealismus und Verächter, leidenschaftliche Gegner
des Materialismus, folglich auch des Sozialismus, in der Philosophie wie in der
Politik. Gegen sie also muß diese Frage erörtert werden.
Stellen wir zunächst fest, daß keiner der erwähnten ausgezeichneten Männer und
kein anderer halbwegs bedeutender idealistischer Denker unserer Zeit sich mit
der logischen Seite dieser Frage im engeren Sinn beschäftigt hat. Keiner
versuchte, philosophisch die Möglichkeit des göttlichen Salto mortale von den
ewigen und reinen Regionen des Geistes in den Schlamm der materiellen Welt zu
lösen. Fürchteten sie, an diesen unlösbaren Widerspruch heranzugehen,
verzweifelten sie an seiner Lösung, nachdem dieselbe den größten Genies der
Geschichte fehlgeschlagen, oder betrachteten sie ihn schon als hinreichend
gelöst? Das ist ihr Geheimnis. Tatsache ist, daß sie die theoretische Darlegung
der Existenz eines Gottes beiseite ließen und nur ihre praktischen Gründe und
Folgerungen entwickelten. Sie alle sprachen davon wie von einer allgemein
angenommenen Tatsache, die als solche keinem Zweifel mehr unterliegen kann, und
beschränkten sich, anstelle jeden Beweises, das Alter und die Allgemeinheit des
Glaubens an Gott festzustellen.
Diese eindrucksvolle Einstimmigkeit gilt in den Augen vieler ausgezeichneten
Männer und Autoren so, um nur die berühmtesten zu nennen, nach der beredt
ausgedrückten Meinung Joseph de Maistres und der des großen italienischen
Patrioten Giuseppe Mazzini mehr als alle Nachweise der Wissenschaft. Wenn die
Logik einer kleinen Zahl konsequenter und sogar sehr großer, aber
alleinstehender Denker zu einem gegenteiligen Ergebnis führt, so sagen sie, dies
sei um so schlimmer für diese Denker und ihre Logik, denn die allgemeine
Zustimmung zu einer Idee, ihre allgemeine Annahme von alters her wurden immer
als siegreichster Beweis für ihre Wahrheit betrachtet. Das Gefühl der ganzen
Welt, eine überall und immer auftretende und sich behauptende Überzeugung
könnten nicht fehlgehen. Sie müßten ihre Wurzel in einer im Wesen des Menschen
selbst liegenden Notwendigkeit haben. Und da festgestellt wurde, daß alle Völker
der Vergangenheit und Gegenwart an das Dasein Gottes glaubten und noch glauben,
ist klar, daß die, die so unglücklich sind, daran zu zweifeln, trotz aller
Logik, die sie zu diesem Zweifel brachte, abnormale Ausnahmen, Monstrositäten
sind.
Das Alter und die Allgemeinheit eines Glaubens soll also, gegen alle
Wissenschaft und Logik, ein hinreichender und un-widerleglicher Beweis für seine
Richtigkeit sein. Warum dies? Bis zum Jahrhundert von Kopernikus und Galilei
glaubte alle Welt, die Sonne drehe sich um die Erde. Hat sich nicht alle Welt
geirrt? Was ist älter und allgemeiner als die Sklaverei? Die Menschenfresserei
vielleicht. Seit Beginn der geschichtlichen Gesellschaft bis heute gab es immer
und überall Ausbeutung der erzwungenen Arbeit der Massen, von Sklaven,
Leibeigenen oder Lohnarbeitern durch eine herrschende Minderheit, Unterdrückung
der Völker durch Kirche und Staat. Muß man daraus schließen, daß diese
Ausbeutung und Unterdrückung der menschlichen Gesellschaft absolut verbundene
Notwendigkeiten sind? Diese Beispiele zeigen, daß das Beweismittel der
Verteidiger des Herrgotts nichts beweist.
Nichts ist tatsächlich so allgemein und so alt wie das Unrechte und Unsinnige;
Wahrheit und Gerechtigkeit dagegen sind in der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaften am wenigsten allgemein verbreitet und am jüngsten. Dies erklärt
auch die ständige historische Erscheinung unerhörter Verfolgungen, deren
Gegenstand ihre ersten Verkünder seitens der offiziellen, patentierten und
interessierten Vertreter der "allgemeinen" und "alten" Glaubensdogmen stets
waren und noch sind, oft auch seitens derselben Volksmassen, die, nachdem sie
die ersten Verkünder gehörig gemartert, stets deren Ideen schließlich annehmen
und zum Sieg führen.
Uns Materialisten und revolutionäre Sozialisten erstaunt und erschreckt diese
geschichtliche Erscheinung in keiner Weise. Gestützt auf unser Gewissen, auf
unsere Liebe zur Wahrheit um jeden Preis, auf die Leidenschaft für die Logik,
die an sich allein eine große Macht bildet und außerhalb welcher es kein Denken
gibt; gestützt auf unsere Leidenschaft für die Gerechtigkeit und unseren
unerschütterlichen Glauben an den Sieg der Menschlichkeit über alle
theoretischen und praktischen Bestialitäten; gestützt endlich auf das
gegenseitige Vertrauen und die Hilfe, die die kleine Zahl unserer
Gleichgesinnten einander geben, nehmen wir alle Folgen dieser geschichtlichen
Erscheinung auf uns, da wir in ihr die Äußerung eines sozialen Gesetzes sehen,
das ebenso natürlich, notwendig und unabänderlich ist wie alle anderen die Welt
lenkenden Gesetze.
Dieses Gesetz ist eine logische, unvermeidliche Folge des tierischen Ursprungs
der menschlichen Gesellschaft; es ist aber- angesichts aller wissenschaftlichen,
physiologischen, psychologischen und historischen Beweise, die sich in unserer
Zeit angehäuft haben, und angesichts seiner so glänzenden Darlegung durch die
Taten der Deutschen als Eroberer Frankreichs- wirklich nicht möglich, an diesem
Ursprung zu zweifeln. Wenn man aber diesen tierischen Ursprung des Menschen
annimmt, erklärt sich alles. Die Geschichte erscheint uns dann als die
revolutionäre Verneinung der Vergangenheit, bald langsam, stumpfsinnig und
verschlagen, bald leidenschaftlich und mächtig. Sie besteht in der
fortschreitenden Verneinung der ursprünglichen tierischen Natur des Menschen
durch die Entwicklung seiner Menschlichkeit. Der Mensch, ein wildes Tier, ein
Verwandter des Gorilla, ging von der tiefen Nacht des tierischen Instinkts aus,
um zum Licht des Geistes zu gelangen, was all seine vergangenen Verirrungen ganz
natürlich erklärt und uns zum Teil über seine gegenwärtigen Irrtümer tröstet.
Von der tierischen Sklaverei ausgehend, durchschritt er die göttliche Sklaverei,
einen Zwischenzustand zwischen seiner Tierheit und Menschlichkeit, und heute
schreitet er zur Eroberung und Verwirklichung seiner menschlichen Freiheit.
Daraus folgt, daß das Alter eines Glaubens, einer Idee, weit entfernt, etwas zu
deren Gunsten zu beweisen, sie uns im Gegenteil verdächtig erscheinen lassen muß.
Denn hinter uns liegt unsere Tierheit, vor uns unsere Menschlichkeit, und das
menschliche Licht, das einzige, das uns erwärmen und erleuchten kann, das
einzige, das uns befreien, uns würdig, frei, glücklich machen und die
Brüderlichkeit unter uns verwirklichen kann - dieses Licht leuchtet nie am
Anfang, sondern, je nach der Zeit, in der man lebt, stets am Ende der
Geschichte. Schauen wir also nie rückwärts, schauen wir immer vorwärts, denn vor
uns ist unsere Sonne und unser Heil, und wenn es erlaubt, ja sogar nützlich und
notwendig ist, zurückzuschauen, um unsere Vergangenheit zu studieren, dann
geschieht dies nur, um festzustellen, was wir gewesen sind und was wir nicht
mehr sein dürfen, was wir glauben und dachten und was wir nicht mehr glauben und
denken dürfen, was wir getan und was wir niemals wieder tun dürfen.
Soweit über das Alter. Was die Allgemeinheit eines Irrtums betrifft, so beweist
dieselbe nur eines: die Ähnlichkeit, wenn nicht die völlige Gleichheit der
menschlichen Natur in allen Zeiten und allen Zonen. Und da feststeht, daß alle
Völker zu allen Zeiten ihrer Geschichte an Gott glaubten und noch glauben,
müssen wir daraus einfach schließen, daß die aus uns selbst hervorgegangene
Gottesidee ein in der Entwicklung der Menschheit geschichtlich notwendiger
Irrtum ist, und uns fragen, warum und wie sie entstand und warum die ungeheure
Mehrheit der Menschheit sie noch heute als wahr annimmt.
Solange wir uns nicht erklären können, wie die Idee einer übernatürlichen oder
göttlichen Welt in der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Bewußtseins
entstand und notwendigerweise entstehen mußte, so lange mögen wir wohl
wissenschaftlich von der Sinnlosigkeit dieser Idee überzeugt sein, wir werden
sie aber in der Meinung der Mehrheit nie zerstören können. Denn wir wären nie
imstande, sie in denselben Tiefen des menschlichen Wesens zu zerstören, in denen
sie entstand, und, zu einem unfruchtbaren, aussichts- und endlosen Kampf
verurteilt, müßten wir uns immer begnügen, sie nur an der Oberfläche zu
bekämpfen, in ihren zahllosen Äußerungen, deren kaum vom gesunden
Menschenverstand erkannte Sinnlosigkeit sofort in neuer und nicht weniger
sinnloser Form wieder entstehen würde. Solange die Wurzel aller die Welt
marternden Sinnlosigkeiten, der Glaube an Gott, unberührt bleibt, wird sie stets
neue Früchte zeitigen. So beginnt in unseren Tagen, in gewissen Kreisen der
höchsten Gesellschaft, der Spiritismus sich auf den Ruinen des Christentums
festzusetzen.
Nicht nur im Interesse der Massen, auch im Interesse der Gesundheit unseres
eigenen Geistes müssen wir uns bemühen, das geschichtliche Werden der
Gottesidee, die Reihe der Ursachen, welche diese Idee im Bewußtsein der Menschen
erzeugten und entwickelten, zu begreifen. Wenn wir uns auch Atheisten nennen und
für solche halten, solange wir diese Ursachen nicht verstanden haben, werden wir
uns stets mehr oder weniger von dem Lärm dieses allgemeinen Gewissens
beherrschen lassen, dessen Geheimnis wir nicht herausgefunden haben, und bei der
natürlichen Schwäche selbst des Stärksten gegenüber dem allmächtigen Einfluß des
sozialen Milieus, das ihn umgibt, riskieren wir stets früher oder später, auf
die eine oder andere Art in den Abgrund der religiösen Sinnlosigkeit
zurückzufallen. Beispiele solcher schmachvoller Bekehrungen sind in der heutigen
Gesellschaft häufig. Ich führte den Hauptgrund der noch heute von dem religiösen
Glauben auf die Massen ausgeübten Macht an. Diese mystischen Neigungen
bezeichnen bei den Massen nicht so sehr eine Verirrung des Geistes als tiefe
innere Unzufriedenheit. Sie sind der instinktive und leidenschaftliche Aufschrei
des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit, die Schmerzen und die
Schande eines erbärmlichen Lebens. Gegen diese Krankheit, sagte ich, gibt es nur
ein einziges Mittel: die soziale Revolution.
Im Anhang suchte ich die Ursachen der Entstehung der geschichtlichen Entwicklung
der religiösen Hirngespinste im Menschenbewußtsein auseinanderzusetzen. Hier
will ich die Frage der Existenz eines Gottes oder des göttlichen Ursprungs der
Welt und des Menschen nur vom Standpunkt ihrer moralischen und sozialen
Nützlichkeit behandeln und über die theoretische Ursache dieses Glaubens nur
wenige Worte sagen, um meine Gedanken besser klarzumachen.
Alle Religionen mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen
wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht
zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt
waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der
der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild
wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht. Die Geschichte der
Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im
menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung
der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf
ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine
Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie
dieselben durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie auf ihre Götter,
übertrieben, ins Maßlose ausgedehnt, wie Kinder es zu tun pflegen. Dank dieser
Bescheidenheit und frommen Großmütigkeit der gläubigen und leichtgläubigen
Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und
konsequenterweise wurden die Menschheit, die Erde desto elender, je reicher der
Himmel wurde. Sobald einmal die Gottheit eingesetzt war, wurde sie natürlich als
Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Verfüger über alle Dinge
proklamiert: Die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr
wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts herausgezogen, beugte
sein Knie vor ihr, betete sie an und erklärte sich als ihr Geschöpf und ihr
Sklave. Das Christentum ist gerade die Religion par excellence. Weil es in
seiner Ganzheit die Natur, das eigentliche Wesen jedes religiösen Systems
ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung
der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.
Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die
Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist,
ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht
und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist
unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden,
und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung
sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die
Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf
der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst
auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie
notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen
unbegrenzten und demütigen Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt
es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine
irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch
Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche
geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das
Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen
Religionen, welche übrigens nur bestimmte und bevorrechtete Völker umfaßten,
während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und
von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit
strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die
absolute Religion, die letzte Religion, und die römischapostolische Kirche die
einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche.
Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern
oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der
menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste
Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung
der Menschen in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und
Herabwürdigung der Menschen wollen wie die Jesuiten, die protestantischen
Momiers, Pietisten oder Methodisten, dann können und dürfen wir dem Gott der
Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zugeständnis machen.
Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich
unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische
Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten.
Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber
frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu
entgehen, und nun mag man wählen.
Muß man daran erinnern, wie sehr und wie die Religionen die Völker verdummen und
verderben? Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der
menschlichen Befreiung, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen
Voraussetzung ihrer Sklaverei. Sie entehren die menschliche Arbeit und machen
sie zum Zeichen und zur Quelle der Knechtschaft. Sie töten Begriff und Gefühl
der menschlichen Gerechtigkeit und lassen die Waagschale immer sich auf die
Seite der triumphierenden Schurken, der bevorrechteten Auserwählten der
göttlichen Gnade, neigen. Sie töten menschlichen Stolz und Würde und schützen
nur die Kriechenden und Demütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl
menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttlichen Grausamkeit. Alle
Religionen sind grausam, alle sind auf Blut gegründet; denn alle ruhen
hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung
der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem
blutigen Geheimnis ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein
Mensch, aber ein durch die Gnade bevorrechteter, ist der göttliche Henker. Dies
erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die Besten, die
Menschlichsten, die Sanftesten, bei nahe immer auf dem Grund ihres Herzens - und
wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den
furchtbaren Einfluß beider auf das Herz der Menschen), - warum, sage ich, in den
Gefühlen jedes Priesters etwas Grausames und Blutdürstiges liegt.
All das wissen unsere ausgezeichneten Idealisten der Gegenwart besser als irgend
jemand. Sie sind gelehrte Leute, die ihre Geschichte kennen, und da sie
gleichzeitig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrichtiger und tiefer
Liebe zur Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese
Untaten, all diese Verbrechen der Religion mit unerreichter Beredsamkeit. Mit
Entrüstung weisen sie jede Gemeinschaftlichkeit mit dem Gott der positiven
Religionen und seinen vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück.
Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, unterscheidet sich von den
wirklichen Göttern der Geschichte gerade dadurch, daß er durchaus kein positiver
und auf irgendeine Weise theologisch oder selbst metaphysisch bestimmter Gott
ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres und Jean-Jacques Rousseaus,
noch der pantheistische Gott Spinozas, noch selbst der gleichzeitig immanente
und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels. Sie hüten sich, ihm
irgendeine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, daß eine solche
Bestimmung ihn der zersetzenden Tätigkeit der Kritik preisgeben würde. Sie
werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die
Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen
Vorsehung. All das könnte ihn bloßstellen. Sie werden sich begnügen zu sagen:
"Gott" und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee,
sondern ein bloßer Hauch.
Er ist der Gattungsname für alles, das ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich
erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht:"Mensch"? Ach, weil König Wilhelm von
Preußen und Napoleon III. und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies
setzt sie in große Verlegenheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Verbindung
des Erhabensten und Schönsten und des Erbärmlichsten und Ungeheuerlichsten, das
es gibt. Wie kommen sie aus dieser Verlegenheit heraus? Sie nennen das eine
göttlich, das andere tierisch, und stellen sich die Göttlichkeit und die
Animalität als zwei Pole vor, zwischen die sie die Menschheit stellen. Sie
wollen oder können nicht begreifen, daß diese drei Ausdrücke nur einen einzigen
bilden und daß man sie zerstört, wenn man sie trennt.
Sie sind in der Logik nicht stark, und man möchte glauben, daß sie sie
verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen und deistischen
Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Idealismus
auf, der sein Trachten viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedankens
schöpft als aus den geschichtlichen, kollektiven und individuellen Erfahrungen,
beinahe sagte ich Bewegungen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein
von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Leben selbst wird
unfruchtbar, wenn es von einem logischen Widerspruch gelähmt wird.
Dieser Widerspruch ist folgender: Sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit.
Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal
getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstören. Sie
sagen in einem Atemzug: "Gott und die Freiheit des Menschen", "Gott und die
Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Menschen", - ohne
sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert,
dies alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott existiert, ist
er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr
da ist, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder
Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich. Mögen diese
Idealisten sich immer gegen den gesunden Menschenverstand und alle
geschichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die menschliche
Freiheit beseelt vorstellen: Ein Herr, was er immer tun und wie freiheitlich er
sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt
notwendigerweise die Sklaverei von allem, das unter ihm ist, ein. Wenn also Gott
existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit
zu dienen: aufhören zu existieren.
Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die
unbedingte Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und
achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: Wenn Gott wirklich
existierte, müßte man ihn beseitigen. Die strenge Logik, die mir diese Worte
diktiert, ist zu klar, als daß ich diesen Gedankengang weiter entwickeln müßte.
Und es scheint mir unmöglich, daß dies den erwähnten ausgezeichneten Männern,
deren Namen so berühmt und so mit Recht geachtet sind, nicht selbst aufgefallen
ist und daß sie den Widerspruch nicht bemerkten, der darin liegt, daß sie
gleichzeitig von Gott und von der menschlichen Freiheit sprachen. Zur
Nichtbeachtung des Widerspruchs muß sie der Gedanke veranlaßt haben, daß diese
Inkonsequenz oder diese Hintansetzung der Logik in der Praxis zum Besten der
Menschheit notwendig ist.
Vielleicht verstehen sie auch die Freiheit, von der sie als von einer von ihnen
sehr geachteten, ihnen sehr lieben Sache sprechen, in ganz anderem Sinn, als wir
Materialisten und revolutionäre Sozialisten sie auffassen. Sie sprechen
tatsächlich nie von ihr, ohne sofort ein anderes Wort hinzuzufügen, das Wort
Autorität, ein Wort und eine Sache, die wir aus vollem Herzen verabscheuen.
Was ist die Autorität? Ist es die unvermeidliche Macht der Naturgesetze, die
sich in der Verkettung und notwendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der
physischen und sozialen Welt äußern? Gegen diese Gesetze ist tatsächlich die
Empörung nicht nur verboten, sondern auch unmöglich. Wir mögen sie verkennen
oder sie noch nicht kennen, aber wir können ihnen nicht ungehorsam sein, weil
sie die Grundlage und Grundbedingung unseres Daseins sind; sie umgeben und
durchdringen uns, regeln all unsere Bewegungen, Gedanken, Handlungen, so daß,
selbst wenn wir ihnen ungehorsam zu sein glauben, wir nur ihre Allmacht
beweisen.
Ja, wir sind unbedingt die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts
Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei.
Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich
außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht
außer uns, sie sind uns eigen, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches,
geistiges und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken und wollen
nur durch sie. Außerhalb ihrer sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher käme
uns also die Macht und der Wille, uns gegen sie zu empören?
Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie
zu erkennen und sie immer mehr seinem Ziel der kollektiven und individuellen
Befreiung oder Humanisierung entsprechend anzuwenden. Sind diese Gesetze einmal
erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie erörterte Autorität aus.
Man muß zum Beispiel ein Narr oder ein Theologe oder wenigstens ein
Metaphysiker, Jurist oder Bourgeois-Ökonom sein, um sich gegen das Gesetz, daß
zwei x zwei gleich vier ist, zu empören. Man muß Glauben besitzen, um sich
einzubilden, daß man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt,
außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem anderen
Naturgesetz beruht. Aber diese Empörungen oder vielmehr diese Versuche oder
tollen Einbildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme;
denn im allgemeinen kann man sagen, daß die Masse der Menschen im täglichen
Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand,das heißt von der Summe
der allgemein anerkannten Naturgesetze, geleitet wird.
Das große Unglück ist, daß eine große Menge von der Wissenschaft schon erkannter
Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt dank der Sorgfalt der
bevormundenden Regierungen, die bekanntlich nur zum Besten der Völker da sind.
Ein anderer Nachteil ist der, daß der größte Teil der auf die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft bezüglichen Naturgesetze, die ebenso notwendig,
unveränderlich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden
Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft hinreichend festgestellt und erkannt
ist. Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft
durch ein großes System der Volkserziehung und des Volksunterrichts in das
Bewußtsein aller übergegangen sein werden, wird die Frage der Freiheit
vollständig gelöst sein.
Die verbissensten Verfechter der Autorität müssen zugeben, daß dann politische
Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Dinge,
die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom
allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem
System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der
Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerlicher
und daher despotischer Gesetze aufzwingen. Die Freiheit des Menschen besteht
einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche
erkannt hat und nicht, weil sie ihm von außen her von irgend einem fremden
Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt
sind.
Man nehme eine wissenschaftliche Körperschaft, die aus den erleuchtetsten
Vertretern der Wissenschaft besteht; man nehme an, sie sei mit der Gesetzgebung,
mit der Organisation der Gesellschaft beauftragt, sei von der lautersten
Wahrheitsliebe erfüllt und erlasse nur Gesetze, die unbedingt den neuesten
Entdeckungen der Wissenschaft entsprechen. Nun, ich behaupte, daß diese
Gesetzgebung und diese Organisation Ungeheuerlichkeiten sein werden, und zwar
aus zwei Gründen. Erstens, weil die menschliche Wissenschaft immer
notwendigerweise unvollkommen ist und man, wenn man das schon Entdeckte mit dem
noch nicht Entdeckten vergleicht, von ihr sagen kann, daß sie noch immer in der
Wiege liegt. Wenn man also das praktische Leben der Gesellschaft und des
einzelnen zwingen würde, sich streng und ausschließlich den letzten Ergebnissen
der Wissenschaft anzupassen, würde man Gesellschaft und Individuen zu den Qualen
eines Prokrustesbettes verurteilen, das sie bald auseinanderreißen und erdrücken
würde, da das Leben immer unendlich weiter ist als die Wissenschaft.
Der zweite Grund ist der: Eine Gesellschaft, die den von einer
wissenschaftlichen Körperschaft gegebenen Gesetzen nicht deshalb gehorchen
würde, weil sie selbst den vernünftigen Charakter dieser Gesetze begriff, in
welchem Fall die Existenz der Körperschaft unnötig würde, sondern weil die
Gesetzgebung dieser Körperschaft im Namen einer Wissenschaft auferlegt wird, die
man verehren würde, ohne sie zu begreifen, - eine solche Gesellschaft wäre nicht
eine Gesellschaft von Menschen, sondern von stummen Tieren. Sie wäre eine zweite
Auflage der armen Republik Paraguay, die sich so lange von der Gesellschaft Jesu
regieren ließ. Eine solche Gesellschaft würde bald auf die tiefste Stufe des
Blödsinns herabsinken.
Ein dritter Grund noch macht eine solche Regierung unmöglich. Eine mit solcher
sozusagen absoluten Herrschaftsgewalt bekleidete wissenschaftliche Körperschaft
würde, auch wenn sie aus den erleuchtetsten Männern bestände, unfehlbar und bald
selbst moralisch und geistig verdorben werden. Dies ist schon heute bei den
wenigen ihnen überlassenen Vorrechten die Geschichte aller Akademien. Das größte
wissenschaftliche Genie sinkt unvermeidlich und schläft ein, sobald es
Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird. Es verliert seine
Selbstbestimmung, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde
Tatkraft, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch sind, die stets
berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu
legen. Zweifellos gewinnt es an Höflichkeit, nützlicher und praktischer
Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, verdorben.
Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und
Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder wirtschaftlich Bevorzugte ist
geistig und moralisch minderwertig. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme
und paßt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Körperschaften und auf
Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der höchsten Bedingung der
Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buches ist, dasselbe zu
entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen.
Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft
anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern
mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte,
sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr
anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung
immer bedürftiger machen würde.
Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen
konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem
allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung
erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren eine Körperschaft
von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich bevorrechtet sind und
durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten
eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden. Ein
Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.
Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind
voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur
Verdummung der Gesetzgeber selbst. Folgt heraus, daß ich jede Autorität
verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende
ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen
Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des
Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder
jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte
dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer
Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir
aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge
mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere,
vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint.
Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen
Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und
Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben.
Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und
den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und
ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.
Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren
Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig
erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand
aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie
mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft
zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher
Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den
Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.
Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner
eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewußt, daß ich nur einen sehr
kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven
Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu
umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die
Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so
ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder
Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen
beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die
vorübergehend und vor allem freiwillig ist.
Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine
Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande
wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der
Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige
des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, daß eine solche
Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich
derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so müßte man
diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle
anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde. Ich meine nicht,
daß die Gesellschaft Männer von Genie mißhandeln soll, wie sie es bis jetzt
getan hat. Aber ich meine ebensowenig, daß sie sie zu fett machen, vor allem
ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und
dies aus drei Ursachen: erstens weil es ihr oft vorkommen würde, einen
Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses
System von Vorrechten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber verwandeln,
demoralisieren, dumm machen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten
geben würde.
Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft
an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und
möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen
Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden
Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser
Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen und der menschlichen
Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft,
willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.
Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die
Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In
unserer Kirche - man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen,
das ich im übrigen verabscheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich
[sont mes deux betes noires] -, in unserer Kirche wie in der protestantischen
Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft,
und wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in
derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinale,
noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet
sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, daß letzterer ein
persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der
schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als
vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres
Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als
daß sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte
Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise
unsere Freiheit aufs Spiel.
Ich verstehe unter "absoluter Wissenschaft" die wirklich universelle
Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zuordnung aller sich in der
beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, in seiner ganzen
Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es
ist klar, daß diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des
menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird.
Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner
bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muß. Gegen diesen Sohn
Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität
aufzulegen die Anmaßung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen,
der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur
allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst
sind - die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben,
genießen und leiden.
Aber während wir die unbedingte, universelle und unfehlbare Autorität der Männer
der Wissenschaft zurückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswerten, aber
relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter
der Spezialwissenschaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu befragen,
wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die
sie uns geben, unter der Bedingung, daß sie selbst bereit sind, von uns gleiche
Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als
sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht zu sehen, daß Männer von großem
Wissen, großer Erfahrung, großem Geist und vor allem großen Herzens auf uns
einen natürlichen, rechtmäßigen, frei angenommenen Einfluß ausüben, der nie im
Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdischen Autorität auferlegt
wird. Wir nehmen alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der
Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher
offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluß dieser Art wird sofort
Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu
haben glaube, Sklaverei und Unsinn aufzwingen.
Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und
legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem
allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, daß sie immer
nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die
Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In diesem
Sinne sind wir wirklich Anarchisten.
Die modernen Idealisten verstehen die Autorität in ganz anderem Sinn. Obgleich
sie sich von dem überlieferten Aberglauben aller bestehenden positiven
Religionen befreit haben, geben sie nichtsdestoweniger der Idee der Autorität
einen göttlichen, absoluten Sinn. Diese Autorität ist nicht die einer wunderbar
geoffenbarten Wahrheit, noch die einer streng wissenschaftlich bewiesenen
Wahrheit. Sie begründen sie auf ein wenig scheinphilosophischer Beweisführung
und auf viel unbestimmt religiösem Glauben, auf viel ideal, abstrakt poetischem
Gefühl. Ihre Religion ist wie ein letzter Versuch der Vergöttlichung von allem,
was die Menschlichkeit in den Menschen bildet. Dies ist das gerade Gegenteil
unseres Werkes. Wir glauben, in Hinsicht auf Menschenfreiheit, Menschenwürde und
Menschenwohl dem Himmel die von ihm der Erde geraubten Güter nehmen zu müssen,
um sie der Erde zurückzugeben; jene aber bemühen sich, einen letzten religiös
heroischen Diebstahl zu begehen, und möchten im Gegenteil dem Himmel, diesem
heute entlarvten göttlichen Dieb, den die kühne Pietätlosigkeit und
wissenschaftliche Analyse der Freidenker ihrerseits plündert, alles zurückgeben,
was die Menschheit an Größtem, Schönstem und Edelstem besitzt.
Zweifellos glauben die Idealisten, daß menschliche Ideen und Dinge, um bei den
Menschen größere Achtung zu genießen, mit göttlicher Weihe umgeben sein müssen.
Wie äußert sich diese Weihe? Nicht durch ein Wunder, wie bei den positiven
Religionen, sondern durch die Größe und Heiligkeit der Ideen und Dinge selbst:
Was groß, schön, edel, gerecht ist, das gilt als göttlich. In diesem neuen
religiösen Kult wird jeder sich an diesen Ideen, diesen Dingen Erleuchtende ein
unmittelbar von Gott selbst geweihter Priester. Und der Beweis dafür? Die Größe
der Ideen, die er ausdrückt, der Dinge, die er vollbringt, ist der Beweis; ein
anderer ist nicht nötig. Sie sind so heilig, daß sie nur von Gott eingegeben
sein können.
Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von
Gefühlen, nicht von wirklichen Gedanken, eine Art metaphysischer Pietismus. Dies
scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die sehr genaue, enge und
trockene Lehre, die sich unter dem unfaßbar Weiten dieser poetischen Formen
versteckt, führt zu denselben verderblichen Ergebnissen wie alle positiven
Religionen: zur vollständigsten Verneinung der Menschenfreiheit und
Menschenwürde.
Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als
göttlich preist, erkennt man damit an, daß die Menschheit allein nicht imstande
gewesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf dasselbe hinaus, wie wenn man
sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend,
ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion,
der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man
die natürliche Minderwertigkeit des Menschen und seine fundamentale Unfähigkeit,
sich aus sich selbst heraus, außerhalb aller göttlichen Erleuchtung, zu
gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle
theologischen, politischen und sozialen Folgerungen der positiven Religionen
zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit
gegenüberstellt, entstehen von überall göttliche Vermittler, Auserwählte, von
Gott Erleuchtete, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu
regieren.
Kann man nicht annehmen, daß alle Menschen in gleicher Weise von Gott erleuchtet
sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist
unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr widersprechen. Man müßte dann der
göttlichen Erleuchtung alle Sinnlosigkeiten und Irrtümer, alle Greuel,
Schändlichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen
vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich
erleuchtete Menschen. Dies sind die großen Männer der Geschichte, die
tugendhaften Genies, wie der ausgezeichnete italienische Bürger und Prophet
Giuseppe Mazzini sagt. Unmittelbar von Gott selbst erleuchtet und auf
allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausgedrückte Zustimmung gestützt - Dio e
Popolo -, sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren.(4)
Damit sind wir wieder bei der Kirche und dem Staat angelangt. Zwar würde die
Kirche in dieser neuen Organisation nicht mehr Kirche, sondern Schule heißen,
die, wie alle alten politischen Organisationen, von Gottes Gnaden sein würde,
sich aber diesmal, wenigstens der Form nach, als notwendiges Zugeständnis an den
modernen Geist und wie in den Einleitungen der kaiserlichen Dekrete Napoleons
III. gesagt wird, auf den (fiktiven) Willen des Volkes stützen würde. Aber auf
den Bänken dieser Schule würden nicht nur die Kinder sitzen: Dort säße der ewig
Unmündige, der Schüler, der für immer als unfähig gilt, seine Prüfungen zu
machen, die Kenntnisse seiner Lehrer zu erwerben und ihrer Zucht zu entwachsen,
das Volk.(5) Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird
aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offiziell und regelrecht
von einer Minderheit zuständiger Männer, von tugendhaften Männern von Genie oder
Talent, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung des Betragens
dieses großen, unverbesserlichen Schreckenskindes, des Volkes. Die Schullehrer
und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger
Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen
ist, eine Herde. Achtung also vor den Scherern, denn wo es eine Herde gibt, gibt
es auch Scherer und Ausbeuter der Herde.
In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner
Herrschaftsgewalt, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken,
Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein
werden. Zwischen dieser Lage und der, die wir Freiheit, die einzige wahre
Freiheit nennen, liegt ein Abgrund. Es würde unter neuen Formen die alte
Unterdrückung und Knechtschaft sein, und wo Knechtschaft ist, ist Elend,
Vertierung, die eigentliche Materialisierung der Gesellschaft, sowohl der
bevorzugten Klassen wie der Massen. Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge
kommen die Idealisten stets zum Triumph eines niedrigen Materialismus. Und das
aus einem sehr einfachen Grunde: Das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich
zu seiner Heimat, dem Himmel, und das Niedrige bleibt allein wirklich auf der
Erde.
Jawohl, der theoretische Idealismus hat den niedrigsten Materialismus in der
Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen -
für diese ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Ergebnis
-, aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu
verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren
beherrschen läßt. Es fehlt nicht an geschichtlichen Beweisen für diese
allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, die sich aber
natürlich erklärt, sobald man sie näher betrachtet.
Man vergleiche die beiden letzten Kulturen der antiken Welt, die griechische und
die römische. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem
Ausgangspunkt natürlichere und menschlich idealere? Die griechische Kultur.
Welche dagegen ist die an ihrem Ausgangspunkt abstrakt idealere, die die
materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert,
vertreten durch die Abstraktion des juristischen Rechts und die natürliche
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zur Abstraktion des Staates, und
welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die
griechische Kultur war zwar, wie alle antiken Kulturen, die römische
inbegriffen, ausschließlich national und hatte die Sklaverei zur Grundlage. Aber
trotz dieser beiden ungeheuren historischen Fehler faßte und verwirklichte sie
nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit; sie veredelte und
idealisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwandelte die Menschenherden
in Vereinigungen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine
unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der
Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit
schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der
Renaissance, genügte es, daß einige griechische Emigranten einige ihrer
unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, das
Denken, die Menschheit, die in dem finsteren Kerker des Katholizismus vergraben
waren, zur Wiedererstehung zu bringen. Die menschliche Befreiung, das ist der
Name der griechischen Kultur. Und der Name der römischen Kultur? Eroberung mit
all ihren brutalen Folgen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das
ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Menschen.
Und was tötet und erdrückt noch heutzutage brutal, materiell in allen Ländern
Europas die Freiheit und Menschlichkeit? Der Triumph des zäsarischen oder
römischen Prinzips. Vergleichen wir jetzt zwei moderne Kulturen: die
italienische und die deutsche. Die erstere vertritt zweifellos in ihrem
allgemeinen Charakter den Materialismus, die letztere im Gegenteil das
Abstrakteste, Reinste, Übersinnlichste, was es an Idealismus gibt. Was sind die
praktischen Früchte beider?
Italien leistete der Sache der menschlichen Befreiung schon ungeheure Dienste.
Es war das erste Land, welches wieder aufstand und in weitem Sinn das Prinzip
der Freiheit in Europa durchführte und der Menschheit ihre Adelstitel wiedergab:
Industrie, Handel, Dichtkunst, Künste, positive Wissenschaften und freies
Denken. Seitdem wurde es durch drei Jahrhunderte vom kaiserlichen und
päpstlichen Despotismus erdrückt und von seiner herrschenden Bourgeoisie in den
Kot gezogen, so daß es heute allerdings sehr verfallen erscheint im Vergleich zu
dem, was es war. Und doch, welcher Unterschied, wenn man es mit Deutschland
vergleicht! Trotz diesem, wie wir hoffen, vorübergehenden Verfall kann man in
Italien menschlich und frei leben und atmen, von einem Volk umgeben, das für die
Freiheit geboren zu sein scheint. Selbst das bourgeoise Italien kann mit Stolz
auf Männer wie Mazzini und Garibaldi weisen. In Deutschland atmet man die Luft
ungeheurer politischer und sozialer Knechtschaft, die ein großes Volk mit
wohlbedachter Ergebung und gutem Willen philosophisch erklärt und annimmt. Seine
Helden - ich spreche von denen des gegenwärtigen, nicht des künftigen
Deutschland, des adligen, bürokratischen, politischen und bourgeoisen, nicht des
proletarischen Deutschland - sind ganz das Gegenteil von Mazzini und Garibaldi:
Es sind heute Wilhelm L, der rohe und naive Vertreter des protestantischen
Gottes, und die Herren von Bismarck und Moltke, die Generale Manteuffel und
Werder. In all seinen internationalen Beziehungen war Deutschland, seit es
besteht, langsam, systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene
freiwillige Knechtschaft auf die benachbarten Völker auszudehnen; seit es sich
als einheitliche Macht bildete, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die
Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutalen und
triumphierenden Sklavensinn.
Um zu zeigen, wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in
praktischen Materialismus verwandelt, braucht man nur das Beispiel aller
christlichen Kirchen und natürlich, vor allem, das der römisch-apostolischen
Kirche anzuführen. Was gibt es Erhabeneres, im idealen Sinn Uneigennützigeres,
von allen irdischen Interessen Losgelösteres als die von dieser Kirche
gepredigte Lehre Christi - und was gibt es brutal Materialistischeres als die
beständige Praxis derselben Kirche seit dem 8. Jahrhundert, seitdem sie sich als
Macht zu bilden begann? Was war und ist wohl der Hauptgegenstand all ihrer
Streitigkeiten mit den Herrschern Europas? Die weltlichen Güter, die Einkünfte
der Kirche zunächst und dann die weltliche Macht, die politischen Vorrechte der
Kirche. Man muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie zuerst in der
modernen Geschichte die unbestreitbare, aber sehr wenig christliche Wahrheit
entdeckte, daß Reichtum und Macht, wirtschaftliche Ausbeutung und politische
Unterdrückung der Massen der untrennbare Ausdruck des Reichs der göttlichen
Idealität auf der Erde sind: Der Reichtum befestigt und vermehrt die Macht, die
Macht entdeckt und schafft immer neue Reichtumsquellen, und beide sichern besser
als Martyrium und Glaube der Apostel, besser als die göttliche Gnade den Erfolg
der christlichen Lehre. Diese geschichtliche Wahrheit verkennen auch die
protestantischen Kirchen nicht. Ich spreche natürlich von den unabhängigen
Kirchen von England, Amerika und der Schweiz, nicht von den unterjochten Kirchen
Deutschlands. Letztere haben keine eigene Initiative; sie tun, was ihre Herren,
ihre weltlichen Herrscher, die gleichzeitig ihre geistlichen Oberhäupter sind,
ihnen zu tun befehlen. Es ist bekannt, daß die protestantische Propaganda, die
Englands und Amerikas besonders, sich sehr eng an die Propaganda der
materiellen, der Handelsinteressen dieser beiden großen Nationen anschließt; es
ist auch bekannt, daß letztere Propaganda durchaus nicht die Bereicherung und
den materiellen Wohlstand der Länder, in die sie in Gesellschaft von Gottes Wort
eindringt, zum Gegenstand hat, sondern die Ausbeutung dieser Länder zur
wachsenden Bereicherung und wirtschaftlichem Wohlstand gewisser ausbeutender und
gleichzeitig sehr frommer Klassen des eigenen Landes.
Mit einem Wort, es ist durchaus nicht schwer, anhand der Geschichte zu beweisen,
daß die Kirche, daß alle christlichen und nichtchristlichen Kirchen neben ihrer
überirdischen Lehre, wahrscheinlich zur Beschleunigung und Erhöhung des Erfolgs
derselben, niemals unterließen, sich zu großen Gesellschaften zu organisieren
zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen, der Arbeit der Massen, unter dem
Schutz und mit dem unmittelbaren und besonderen Segen irgendeiner Gottheit; daß
alle Staaten, die bekanntlich an ihrem Ursprung mit all ihren politischen und
juristischen Einrichtungen und herrschenden und bevorzugten Klassen nichts
anderes waren als weltliche Nebenstellen dieser verschiedenen Kirchen,
gleicherweise als Hauptgegenstand dieselbe mittelbar von der Kirche
gerechtfertigte Ausbeutung zum Nutzen weltlicher Minderheiten haben; und daß im
allgemeinen die Tätigkeit des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der
Erde immer und überall schließlich zur Begründung des einer kleinen Zahl
wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger
ausgesetzten Idealismus der Massen führte. Was wir heute sehen, ist ein neuer
Beweis dafür. Wer sind heute, abgesehen von den oben erwähnten, in die Irre
gehenden großen Herzen und Geistern, die erbittertsten Verteidiger des
Idealismus? Zunächst alle fürstlichen Höfe. In Frankreich waren es Napoleon III.
und seine Frau, Madame Eugenie; ihre Exminister, Höflinge und Exmarschälle, von
Rouher und Bazaine bis Fleury und Pietri, die Männer und Frauen dieser
kaiserlichen Welt, die Frankreich so gut idealisiert und gerettet haben; ihre
Journalisten und Gelehrten, die Cassagnac, Girardin, Duvernois, Veuillot, Le
Verrier, Dumas, dann die schwarze Phalanx der Jesuiten und Jesuitinnen jeder
Kleidung; der ganze Adel und die ganze obere und mittlere Bourgeoisie
Frankreichs; liberale Doktrinäre und Liberale ohne Doktrin: die Guizot, Thiers,
Jules Favre, Pelletan und Jules Simon, alles verbissene Verteidiger der
bourgeoisen Ausbeutung. In Preußen, in Deutschland ist es Wilhelm L, der wahre
gegenwärtige Vertreter des Herrgotts auf Erden, all seine Generäle, alle seine
pommerischen und anderen Offiziere, seine ganze Armee, die, auf ihren religiösen
Glauben gestützt, soeben Frankreich auf die bekannte ideale Art erobert hat. In
Rußland ist es der Zar und sein ganzer Hof, sind es die Murawjow und Berg, alle
Würger und frommen Bekehrer Polens. Mit einem Wort, überall dient heute der
religiöse oder philosophische Idealismus - letzterer ist nur die mehr oder
weniger freie Übertragung des ersteren - der materiellen, blutigen und brutalen
Gewalt, der schamlosen materiellen Ausbeutung als Fahne; die Fahne des
theoretischen Materialismus, die rote Fahne der wirtschaftlichen Gleichheit und
sozialen Gerechtigkeit wird dagegen erhoben von dem praktischen Idealismus der
unterdrückten und hungernden Massen, der die größte Freiheit und das menschliche
Recht jedes einzelnen in der Brüderlichkeit aller Menschen der Erde zu
verwirklichen sucht.
Wer sind die wahren Idealisten, die Idealisten nicht der Abstraktion, sondern
des Lebens, nicht des Himmels, sondern der Erde, und wer sind die Materialisten?
Es ist augenscheinlich, daß die Hauptbedingung des theoretischen oder göttlichen
Idealismus die Opferung der Logik, der menschlichen Vernunft, der Verzicht auf
die Wissenschaft ist. Man sieht andererseits, daß man durch die Verteidigung der
idealistischen Lehren unbedingt zur Partei der Unterdrücker und Ausbeuter der
Volksmassen hingezogen wird. Diese beiden großen Ursachen sollten, scheint es,
genügen, jeden großen Geist, jedes große Herz vom Idealismus zu entfernen. Wie
kommt es, daß unsere ausgezeichneten zeitgenössischen Idealisten, denen gewiß
weder Geist, noch Herz, noch guter Wille fehlen und die ihr ganzes Dasein dem
Dienst der Menschheit geweiht haben, - wie kommt es, daß diese darauf bestehen,
in den Reihen der Vertreter einer hinfort verurteilten und entehrten Lehre zu
verharren?
Ein sehr triftiger Grund muß sie hierzu treiben. Dies kann weder die Logik noch
die Wissenschaft sein, da diese beide ihre Entscheidung gegen die idealistische
Lehre abgegeben haben. Ebensowenig können es persönliche Interessen sein, da
diese Männer über alles derartige unendlich erhaben sind. Es muß also ein
mächtiger moralischer Beweggrund sein. Welcher? Es gibt nur einen einzigen:
Diese ausgezeichneten Männer denken ohne Zweifel, daß die idealistischen
Theorien oder der idealistische Glaube zur Würde und moralischen Größe des
Menschen wesentlich notwendig sind und daß die materialistischen Lehren ihn im
Gegensatz dazu auf die Stufe der Tiere herunterbringen würden.
Und wenn gerade das Gegenteil hiervon wahr wäre? Jede Entwicklung, sagte ich,
schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein. Da nach der materialistischen
Schule der Ausgangspunkt materiell sein muß, muß seine Verneinung
notwendigerweise ideal sein. Von der Gesamtheit der wirklichen Welt oder von
dem, das man abstrakt die Materie nennt, ausgehend, gelangt sie logisch zur
wirklichen Idealisierung, das heißt zur Humanisierung, zur vollen und ganzen
Befreiung der Gesellschaft. Da im Gegensatz dazu und aus dem gleichen Grunde der
Ausgangspunkt der idealen Schule ideal ist, gelangt sie notwendigerweise zur
Materialisierung der Gesellschaft, zur Organisation eines brutalen Despotismus
und einer harten und schändlichen Ausbeutung unter der Form der Kirche und des
Staates. Die geschichtliche Entwicklung des Menschen ist nach der
materialistischen Schule ein fortschreitender Aufstieg; nach dem idealistischen
System kann sie nur ein beständiges Fallen sein.
Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets
denselben wesentlichen Gegensatz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich
schon bemerkte, der Materialismus von der tierischen Stufe aus, um die
Menschheit zu bilden; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei
zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verurteilen. Der
Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit;
der Idealismus verkündet den freien Willen im Namen der Menschenwürde und
gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das
Autoritätsprinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Zugabe zur tierischen
Natur betrachtet und weil nach ihm der Sieg der Menschlichkeit, der in seinen
Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte ist, nur durch die Freiheit
verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man die
Idealisten stets bei unbedingtem praktischen Materialismus treffen, während man
die Materialisten die höchsten idealen Ziele und Gedanken verfolgen und
verwirklichen sieht.
Die Geschichte, sagte ich, kann im System der Idealisten nur ein beständiges
Fallen sein. Sie beginnen mit einem schrecklichen Fall, von dem sie sich nie
wieder erholen: mit dem göttlichen Salto mortale aus den erhabenen Regionen der
reinen, absoluten Idee zur Materie: nicht zu der stets tätigen und bewegten
Materie voll Eigenschaften und Kräften, Leben und Intelligenz, wie sie uns in
der wirklichen Welt erscheint, sondern zur abstrakten, verarmten Materie, die
ins absolute Elend gebracht wird durch die regelrechte Plünderung jener Preußen
des Denkens, der Theologen und Metaphysiker, die ihr alles raubten, um es ihrem
Kaiser, ihrem Gott zu geben; zu jener Materie, die, aller Eigenschaften, aller
eigenen Tätigkeit und Bewegung beraubt, nur mehr - im Gegensatz zur Gottesidee -
absolute Dummheit, Undurchdringlichkeit, Untätigkeit und Unbeweglichkeit
darstellt.
Der Fall ist so schrecklich, daß die Gottheit, die göttliche Person oder Idee,
sich breitschlägt, ihr Eigenbewußtsein verliert und sich nie wiederfindet. Und
in dieser verzweifelten Lage ist sie noch gezwungen, Wunder zu üben! Denn sobald
die Materie untätig ist, ist jede Bewegung, selbst die materiellste, ein Wunder
und kann nur die Wirkung einer göttlichen Dazwischenkunft, von Gottes Einwirkung
auf die Materie, sein. Und so bleibt denn diese arme Gottheit, durch ihren Fall
heruntergekommen und fast vernichtet, einige hundert Jahrtausende in diesem
Ohnmachtszustand, dann erwacht sie langsam, sucht stets vergeblich eine
unbestimmte Erinnerung von sich selbst zu gewinnen, und jede Bewegung, die sie
im Hinblick auf dieses Ziel in der Materie macht, wird eine neue Schöpfung, eine
neue Bildung, ein neues Wunder. Auf diese Weise durchschreitet sie alle Grade
der Materialität und Bestialität; zuerst ein Gas, ein einfacher und
zusammengesetzter chemischer Körper, ein Mineral, verbreitet sie sich dann auf
der Erde als pflanzlicher und tierischer Organismus und konzentriert sich dann
im Menschen. Hier scheint sie bestimmt, sich wiederzufinden, denn sie zündet in
jedem menschlichen Wesen einen Engelsfunken an, ein Teilchen ihres eigenen
göttlichen Wesens, die unsterbliche Seele.
Wie konnte sie eine absolut unkörperliche Sache in etwas absolut Materiellem
unterbringen? Wie kann der Körper den reinen Geist enthalten, einschließen,
begrenzen, binden? Dies ist wieder eine jener Fragen, die allein der Glaube,
diese leidenschaftliche und dumme Behauptung des Unsinnigen, lösen kann. Es ist
das größte aller Wunder. Hier haben wir nur die Wirkungen und praktischen Folgen
dieses Wunders festzustellen. Nach Hunderten von Jahrtausenden vergeblicher
Bemühungen, zu sich zu kommen, findet die verlorene, in der von ihr belebten und
in Bewegung gesetzten Materie verbreitete Gottheit einen Stützpunkt, eine Art
Heim, um sich zu sammeln. Dies ist der Mensch, dies ist seine unsterbliche
Seele, die eigentümlicherweise in einen sterblichen Körper gesperrt ist. Aber
jeder Mensch, für sich genommen, ist viel zu beschränkt, zu klein, um die
göttliche Unendlichkeit zu umschließen; er kann nur einen sehr kleinen Teil
derselben enthalten, der, unsterblich wie das Ganze, aber unendlich viel kleiner
als das Ganze ist. Daraus ergibt sich, daß das göttliche Wesen, das absolut
unkörperliche Wesen, der Geist, teilbar ist wie die Materie. Dies ist ein
weiteres Geheimnis, dessen Lösung dem Glauben überlassen werden muß.
Wenn sich Gott ganz in jedem Menschen unterbringen könnte, dann wäre jeder
Mensch Gott. Wir hätten eine ungeheure Anzahl von Göttern, von denen jeder von
allen anderen beschränkt und doch unendlich wäre, ein Widerspruch, der die
gegenseitige Vernichtung der Menschen bedeuten würde und die Unmöglichkeit, daß
mehr als ein Mensch da wäre. Was die Teile betrifft, ist dies eine andere Sache:
Nichts ist tatsächlich der Vernunft entsprechender, als daß ein Teil von einem
anderen Teil begrenzt und kleiner als das Ganze sei. Nur zeigt sich hier mehr
oder weniger ein anderer Widerspruch. Begrenzt zu sein ist eine Eigenschaft der
Materie, nicht des Geistes; des Geistes hier im Sinn der Materialisten, da der
Geist für die Materialisten nur die Äußerung des ganz materiellen Organismus des
Menschen ist; in diesem Fall hängt Größe oder Kleinheit des Geistes ganz von der
mehr oder weniger großen materiellen Vollendung des menschlichen Organismus ab.
Aber diese Eigenschaften der Begrenzung und relativen Größe können dem Geist,
wie ihn die Idealisten verstehen, nicht angehören, dem absolut unkörperlichen,
außerhalb jeder Materie existierenden Geist. Da kann es nichts Größeres und
Kleineres, keine Grenze zwischen den Geistern geben, denn es gibt nur einen
Geist: Gott. Nimmt man noch dazu, daß die unendlich kleinen und beschränkten
Teilchen, die die menschlichen Seelen bilden, gleichzeitig unsterblich sind, so
erreicht man den Gipfel der Widersprüche. Aber das ist eine Frage des Glaubens;
gehen wir weiter.
So also ist die Gottheit zerrissen und in unendlich kleinen Teilen in einer
ungeheuren Anzahl von Wesen jeden Geschlechts, jeden Alters, aller Rassen und
Farben untergebracht. Dies ist eine für sie außerordentlich unbequeme und
unglückliche Lage; denn die göttlichen Teilchen kennen sich zu Beginn ihrer
menschlichen Existenz so wenig untereinander, daß sie beginnen, sich gegenseitig
aufzufressen. Jedoch bewahren die göttlichen Teilchen, die Menschenseelen, in
diesem Zustand ganz und gar tierischer Barbarei und Brutalität eine gewisse
unbestimmte Erinnerung an ihre ursprüngliche Göttlichkeit: Sie werden
unaufhaltsam nach ihrem Ganzen zu angezogen; sie suchen sich und suchen das
Ganze. Die Gottheit selbst, in der materiellen Welt verbreitet und verloren,
sucht sich in den Menschen, und sie ist derart durch diese Menge menschlicher
Gefängnisse, in denen sie zerstreut ist, verwirrt, daß sie bei diesem Suchen
eine Menge Dummheiten macht.
Mildem Fetischismus beginnend, sucht sie sich selbst und betet sich an bald in
einem Stein, bald in einem Stück Holz oder einem Stück Tuch. Wahrscheinlich
sogar hätte sie sich nie aus dem Tuchfetzen erhoben, wenn die andere Gottheit,
die nicht in die Materie fiel und im Zustand reinen Geistes in den erhabenen
Höhen des absoluten Ideals oder in den himmlischen Regionen blieb, nicht mir ihr
Mitleid gehabt hätte.
Hier liegt ein neues Geheimnis, das der in zwei Hälften gespaltenen Gottheit,
welche Hälften aber jede ein Ganzes und jede unendlich sind und von denen die
eine - Gott der Vater - sich in den reinen, immateriellen Regionen erhält,
während die andere - Gott der Sohn - sich in die Materie fallen ließ. Wir werden
gleich sehen, wie zwischen diesen beiden voneinander getrennten Gottheiten
beständige Beziehungen von oben nach unten und von unten nach oben entstehen und
wie diese Beziehungen, als ein einziger ewiger und beständiger Akt gedacht, den
heiligen Geist bilden. Dies ist, in seinem wahren theologischen und
metaphysischen Sinn, das große, das schreckliche Geheimnis der christlichen
Dreieinigkeit.
Aber verlassen wir so schnell als möglich diese Höhen und sehen wir, was auf der
Erde vorgeht. Gott der Vater sah von der Höhe seines ewigen Glanzes, daß der
arme Sohn Gottes, von seinem Fall flachgequetscht und verwirrt, sich derart in
die Materie tauchte und in ihr verlor, daß er, selbst nachdem er den
menschlichen Zustand erreicht, sich nicht wiederfand, und er entschloß sich
endlich, ihm zu helfen. Aus der ungeheuren Zahl gleichzeitig unsterblicher,
göttlicher und unendlich kleiner Teilchen, in die Gott der Sohn sich zerstreute,
so daß er sich in ihnen nicht mehr zurechtfand, wählte Gott der Vater die ihm am
meisten gefallenden aus und machte daraus seine Erleuchteten, seine Propheten,
seine "tugendhaften Genies", die großen Wohltäter und Gesetzgeber der
Menschheit: Zarathustra, Buddha, Moses, Konfuzius, Lykurg, Solon, Sokrates, den
göttlichen Plato und vor allem Jesus Christus, die vollständige Verwirklichung
des endlich in eine einzige menschliche Person gesammelten und konzentrierten
Gottessohnes; alle Apostel, Petrus, Paulus und vor allem Johannes; Konstantin
den Großen, Mohammed, dann Karl den Großen, Gregor VII., Dante, nach einigen
auch Luther, Voltaire und Rousseau, Robespierre und Danton und viele andere
große und heilige geschichtliche Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle
anführen kann, aber unter denen ich als Russe den heiligen Nikolaus nicht zu
vergessen bitte.
So sind wir also bei dem Erscheinen Gottes auf der Erde angelangt. Aber sobald
Gott erscheint, wird der Mensch zu nichts. Man wird einwenden, daß er durchaus
nicht zu nichts wird, da er selbst ein Teil Gottes ist. Verzeihung! Ich gebe zu,
daß ein Teilchen, ein Teil eines bestimmten, beschränkten Ganzen, wie klein es
auch sei, eine Quantität, eine positive Größe ist. Aber ein Teilchen, ein Teil
des unendlich Großen ist, mit demselben verglichen, notwendigerweise unendlich
klein. Das Produkt von Milliarden, mit Milliarden von Milliarden multipliziert,
wird dem unendlich Großen gegenüber unendlich klein sein, und das unendlich
Kleine ist gleich null. Gott ist alles, also sind der Mensch und die ganze
wirkliche Welt, das Universum, mit ihm nichts. Da gibt es keinen Ausweg.
Gott erscheint, der Mensch wird zu nichts, und je größer die Gottheit wird,
desto elender wird die Menschheit. Das ist die Geschichte aller Religionen, die
Wirkung aller Erleuchtungen und göttlichen Gesetzgebungen. In der Geschichte ist
der Name Gottes die schreckliche historische Keule, mit der alle göttlich
erleuchteten Männer, die großen "tugendhaften Genies", die Freiheit, Würde,
Vernunft und das Wohl der Menschen niederschlagen. Zuerst sahen wir den Fall
Gottes. Jetzt sehen wir einen Fall, der uns mehr interessiert, den des Menschen,
durch das einfache Erscheinen oder die Offenbarung Gottes auf Erden.
In welch tiefem Irrtum befinden sich unsere lieben und ausgezeichneten
Idealisten! Wenn sie zu uns von Gott sprechen, glauben sie, uns zu erheben, zu
befreien, zu veredeln, und wollen dies, und statt dessen würdigen sie uns herab
und erdrücken uns. Sie bilden sich ein, mit dem Namen Gottes unter den Menschen
Brüderlichkeit einführen zu können, und schaffen im Gegenteil Stolz und
Verachtung; sie sähen Zwietracht, Haß und Krieg und errichten Knechtschaft. Denn
mit Gott kommen notwendigerweise die verschiedenen Grade göttlicher Erleuchtung;
die Menschheit zerfällt in sehr Erleuchtete, in minder Erleuchtete und in gar
nicht Erleuchtete. Zwar sind alle gleich nichtig vor Gott, aber untereinander
verglichen sind die einen größer als die anderen, nicht nur in Wirklichkeit, was
nichts bedeuten würde, da eine tatsächliche Ungleichheit von selbst in der Menge
verloren geht, wenn sie nichts, keine Fiktion oder gesetzliche Einrichtung
findet, an die sie sich anklammern kann; nein, die einen sind größer als die
anderen durch das göttliche Recht der Erleuchtung, wodurch sofort eine feste,
beständige, erstarrende Ungleichheit entsteht. Die mehr Erleuchteten müssen von
den weniger Erleuchteten gehört und ihnen muß gehorcht werden, ebenso den
weniger Erleuchteten von den gar nicht Erleuchteten. So ist das Prinzip der
Autorität fest aufgestellt, und mit ihm die beiden grundlegenden Einrichtungen
der Knechtschaft: die Kirche und der Staat.
Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder religiösen Erleuchteten der
ärgste. Sie sind so eifersüchtig auf den Ruhm ihres Gottes und den Triumph ihrer
Idee, daß ihnen kein Herz bleibt für die Freiheit, die Würde, nicht einmal für
die Leiden der lebenden wirklichen Menschen. Der göttliche Eifer, die
ausschließliche Sorge um die Idee trocknen in den zartesten Seelen, den
mitfühlendsten Herzen die Quellen der Menschenliebe aus. Sie sehen alles, was
ist, was in der Welt geschieht, vom Standpunkt der Ewigkeit oder der abstrakten
Idee an; sie behandeln vergängliche Dinge mit Verachtung; aber das ganze Leben
wirklicher Menschen, der Menschen von Fleisch und Blut, besteht nur aus
vergänglichen Dingen; sie selbst sind vorübergehende Wesen, die nach ihrem
Vergehen von anderen, ebenso vergänglichen ersetzt werden, die aber nie selbst
wiederkommen. Von Bleibendem oder relativ Ewigem gibt es bei den Menschen die
Tatsache der Menschheit selbst, die in beständiger Entwicklung, immer reicher,
von einer Generation zur anderen übergeht. Ich sage relativ ewig, weil nach der
Zerstörung unseres Planeten - und diese Zerstörung muß früher oder später
eintreten, da alles, was einen Anfang hat, notwendigerweise auch ein Ende haben
muß -, weil nach Zerstörung unseres Planeten, der ohne Zweifel irgend einer
neuen Bildung im Weltsystem, das allein wirklich ewig ist, als Element dienen
wird, niemand weiß, was aus unserer ganzen menschlichen Entwicklung wird. Da
aber der Zeitpunkt dieser Auflösung unendlich weit von uns entfernt ist, können
wir die Menschheit, im Vergleich mit dem so kurzen menschlichen Leben, ganz gut
als ewig betrachten. Aber diese Tatsache der fortschreitenden Menschheit selbst
ist nur wirklich und lebendig durch ihre Erscheinung und Verwirklichung zu
bestimmter Zeit, an bestimmten Orten, in wirklich lebenden Menschen, und nicht
in ihrer allgemeinen Idee.
Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem
Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Anhang als
Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest,
daß sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre
allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann,
mit einem Wort das in ihren beständigen Verwandlungen Bleibende wie ihre
materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben
vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfaßbar ist. Die Wissenschaft
versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den
Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für
sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen
Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft begründet ist.
Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und
die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst
ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten
Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der
Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der
vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der
Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze
stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit
auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge
Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind.
Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht
das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos
wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende
Wiedergabe sie ist - im Gehirn, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst
nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus
des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend,
aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden,
Freuden, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft
freiwillig die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts,
sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn
die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende
Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen
oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem
von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust,
geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der
Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten.
Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn
sie sich Positivisten, Schüler Auguste Comtes, nennen oder selbst Schüler der
doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich,
unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend und verheerend sein. Man kann
von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen
und Metaphysikern sagte: Sie haben weder Gefühl noch Herz für persönliche
lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es
ist die natürliche Folge ihres Berufes. Als Männer der Wissenschaft haben sie
nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche.
Die Wissenschaft, welche nur mit dem zu tun hat, was auszudrücken und beständig
ist, d.h. mit mehr oder weniger entwickelten und bestimmten Allgemeinheiten, muß
sich hier besiegt erklären von dem Leben, das allein in Verbindung steht mit der
lebendigen und empfindlichen, aber unfaßbaren und unsagbaren Seite der Dinge.
Das ist die wirkliche und man kann sagen die einzige Grenze der Wissenschaft,
eine wirklich unüberschreitbare Grenze. Ein Naturforscher, der selbst ein
wirkliches und lebendes Wesen ist, seziert beispielsweise ein Kaninchen; dieses
Kaninchen ist gleichfalls ein wirkliches Wesen und war, wenigstens vor kaum
einigen Stunden, eine lebende Individualität. Nachdem der Naturforscher es
seziert hat, beschreibt er es: Nun, das Kaninchen, welches aus seiner
Beschreibung hervorgeht, ist ein Kaninchen im allgemeinen, das, jeder
Individualität beraubt, allen Kaninchen gleicht und deshalb nie die Kraft zu
existieren haben wird und ewig ein unbewegliches und nichtseiendes Wesen bleiben
wird, nicht einmal körperlich, sondern eine Abstraktion, der festgehaltene
Schatten eines lebendigen Wesens. Die Wissenschaft hat nur mit solchen Schatten
zu tun. Die lebendige Wirklichkeit entschlüpft ihr und gibt sich nur dem Leben,
das, weil es selbst flüchtig und vorübergehend ist, immer alles, was lebt, d.h.
alles, was vergeht oder flieht, fassen kann und in der Tat faßt.
Das Beispiel des der Wissenschaft geopferten Kaninchens berührt uns wenig, weil
wir uns gewöhnlich für das individuelle Leben der Kaninchen sehr wenig
interessieren. Anders ist es mit dem individuellen Leben der Menschen, das die
Wissenschaft und die Männer der Wissenschaft, welche gewöhnt sind, unter
Abstraktionen zu leben, d.h. flüchtige und lebendige Wirklichkeiten ihren
beständigen Schatten zu opfern, gleichfalls fähig wären, zu opfern oder
wenigstens dem Nützen ihrer abstrakten Allgemeinheiten unterzuordnen, wenn man
sie nur machen ließe.
Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für
die Wissenschaft gleichfalls unfaßbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb
müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen,
um von ihr nicht wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert
zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und
gegen die Rechtswissenschaft verwahren müssen, die alle gleichfalls an jenem
abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilhaben und das unheilvolle Streben
besitzen, die Individuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern, die nur
mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die göttliche
Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die
Gerechtigkeit.
Ich bin weit davon entfernt, die nützlichen Abstraktionen der Wissenschaft mit
den verderblichen Abstraktionen der Theologie, der Politik und der
Rechtswissenschaft vergleichen zu wollen. Diese letzteren müssen aufhören zu
herrschen, müssen von Grund auf aus der menschlichen Gesellschaft ausgetilgt
werden - ihr Wert, ihre Befreiung, ihre endgültige Humanisierung sind nur um
diesen Preis möglich -, während die wissenschaftlichen Abstraktionen im
Gegenteil ihren Platz einnehmen müssen, nicht um die menschliche Gesellschaft
nach dem freiheitsmörderischen Traum der positivistischen Philosophen zu
regieren, sondern um ihre natürliche und lebendige Entwicklung zu beleuchten.
Die Wissenschaft kann wohl Anwendung auf das Leben finden, aber nie sich im
Leben verkörpern, weil das Leben die unmittelbare und lebendige Wirkung, die
gleichzeitig natürliche und schicksalsbestimmte Bewegung der lebendigen
Individualitäten ist. Die Wissenschaft ist nur die immer unvollständige und
unvollkommene Abstraktion dieser Bewegung. Wenn sie sich ihm als unbedingte
Lehre, als herrschende Autorität aufzwingen würde, würde sie es arm machen,
verdrehen und lahmen. Die Wissenschaft kann nicht aus ihren Abstraktionen
hinaus, sie sind ihr Reich. Aber die Abstraktionen und ihre unmittelbaren
Vertreter: Priester, Politiker, Juristen, Ökonomisten und Gelehrte müssen
aufhören, die Volksmassen zu beherrschen. Der ganze Fortschritt der Zukunft
liegt darin. Er ist das Leben und die Bewegung des Lebens, die individuelle und
soziale Wirkung der Menschen, die ihrer vollständigen Freiheit zurückgegeben
sind. Er ist die vollständige Vernichtung des Autoritätsprinzips. Und wie? Durch
die weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volk. Auf diese Weise wird
die soziale Masse außerhalb sich selbst keine sogenannte absolute Wahrheit mehr
haben, die sie lenkt und beherrscht, die vertreten ist von Persönlichkeiten,
welche ein großes Interesse daran haben, sie ausschließlich in ihren Händen zu
halten, weil sie ihnen die Macht, und mit der Macht den Reichtum, die
Möglichkeit gibt, durch die Arbeit der Volksmassen zu leben. Diese Masse wird
aber in sich selbst eine immer relative, aber wirkliche Wahrheit, ein Licht
haben, welches ihre natürlichen Bewegungen erhellt und jede Autorität und jede
äußere Leitung unnötig machen wird.
Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher
ist, daß kein Gelehrter heute wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu
behandeln, muß man doch stets fürchten, daß die Gelehrten als Körperschaft
lebende Menschen wissenschaftlichen Versuchen unterwerfen, die für die Opfer
gewiß weniger grausam, aber nicht weniger schädlich sein würden. Wenn die
Gelehrten an den Körpern einzelner Menschen nicht experimentieren können, werden
sie verlangen, am sozialen Körper Versuche zu machen, was man unbedingt
verhindern muß.
In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als
solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine
abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die
wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen
Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten
Opferpriester.
Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser
Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit
allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr
eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht im Sinn des
wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl
oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert
gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und erinnert uns durch
diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren Schaffung in ihrer Macht
liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die lebenden, wirklichen
Individualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist
also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die
Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen,
vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.
Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die
eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert
gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie
erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut,
daß alle Tierarten, die Gattung Mensch inbegriffen, nur wirklich existieren als
unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen,
ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen
der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt
und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der
Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und
beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine
Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in
seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern. Wenn sie nicht durch
theologischen der metaphysischen, politischen und juristischen Doktrinarismus
oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die
natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist
ihr letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das oberste Gesetz der Menschheit
ist und daß das große, das wahre, das einzig rechtmäßige Ziel der Geschichte die
Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche
Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn
schließlich, wenn man nicht in die freiheitstötende Fiktion, daß der Staat das
Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die
systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muß man anerkennen, daß
kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die
Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.
Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht
weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das
Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann
nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt
sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob,
nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht
existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen.
Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen,
lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen
haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen
werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in
Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Interesse.
Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer Entwicklung.
Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von
Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst
aufheben, wollte sie sich damit anders befassen als mit einem Beispiel zur
Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein;
denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie
kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit
der Lage und den allgemeinen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit
im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volkes, einer Klasse von
Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und
den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur
diese Aufgabe in weitem, vernünftigem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht
getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.
Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen,
die sie unfähig ist durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein
und das Schicksal von Peter und Jakob zu übergehen, darf man nie erlauben, daß
sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob beherrscht. Denn sie wäre
wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt.
Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie außer acht zu lassen, ihre patentierten
Vertreter aber, die durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit
sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluß nachgeben, den
jedes Vorrecht unvermeidich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im
Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben
und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juristischen Rechts sie
bis jetzt geschunden haben.
Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens
gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft,
nicht um die Wissenschaft zu zerstören - dies wäre ein Verbrechen an der
Menschheit -, sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den sie nie wieder
verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein
beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für
irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale
Ehre, geschichtliche Rechte juristische Rechte, politische Freiheit,
öffentliches Wohl. Solcher Art war bis jetzt die natürliche, freiwillige,
unvermeidliche Bewegung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran
ändern; wir müssen es, was die Vergangenheit betrifft, annehmen, wie wir alles
natürliche Unheil annehmen. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg
zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen:
Selbst wenn man den machiavellistischen Künsten der herrschenden Klassen den
größten Anteil zuschreibt, müssen wir anerkennen, daß keine Minderheiten mächtig
genug gewesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn
es nicht in diesen Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung
gegeben hätte, die sie dazu trieb, sich immer von neuem einer dieser
verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich
immer von menschlichem Blut nährten.
Daß die Theologen, Politiker und Juristen dies sehr schön finden, ist klar. Als
Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der
Volksmassen. Ebensowenig darf erstaunen, wenn auch die Metaphysik ihre
Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Aufgabe ist ja, das Unbillige und Unsinnige
zu rechtfertigen und möglichst vernünftig erscheinen zu lassen. Daß aber selbst
die positive Wissenschaft bis jetzt das gleiche Bestreben zeigte, müssen wir
feststellen und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun: einmal, weil
sie, außerhalb des Volkslebens stehend, von einer bevorrechteten Körperschaft
vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als absolutes und
letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat, während sie
aufgrund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie sich letzten
Endes gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sehen wird, hätte verstehen müssen,
daß sie nur ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung eines viel höheren Zweckes
ist: das der vollständigen Humanisierung der wirklichen Lage aller wirklichen
Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben.
Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik,
Politik und dem juristischen Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen
Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre
Abstraktionen aufstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der
Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer
Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie scharf von allen vorhergehenden Lehren
und wird ihr immer eine große Stellung in der menschlichen Gesellschaft sichern.
Sie wird gewissermaßen deren kollektives Bewußtsein bilden. Andererseits aber
schließt sie sich all diesen Lehren vollständig an: dadurch, daß sie als
Gegenstand nur Abstraktionen hat und haben kann und durch ihr Wesen gezwungen
ist, die wirklichen Individuen außer acht zu lassen, außerhalb welcher selbst
die richtigsten Abstraktionen keine wirkliche Existenz haben. Um diesen
wesentlichen Fehler zu beheben, müßte sich das praktische Vorgehen der
vorgenannten Lehren und das der positiven Wissenschaft in folgendem
unterscheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Massen, um sie mit Wollust
ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre Vertreter stets sehr
einträglich sind. Letztere muß in Erkenntnis ihrer absoluten Unfähigkeit, die
wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren,
endgültig und unbedingt auf die Regierung der Gesellschaft verzichten; denn wenn
sie sich um dieselbe kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets
die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die
den einzigen sie wirklich beschäftigenden Gegenstand bilden.
Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt
heutzutage kaum, sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine
Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: Was wird
sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen
Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen,
politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und
wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte
gehabt haben. Aber dieses allgemeine Bild der menschlichen Kultur, wie sehr es
auch in die Einzelheiten gehen mag, wird stets nur allgemeine und folglich
abstrakte Würdigungen enthalten können in dem Sinn, daß die Milliarden
menschlicher Individuen, welche den lebenden und leidenden Stoff dieser
Geschichte bilden, die zugleich triumphierend und trostlos ist - triumphierend
im Hinblick auf ihre allgemeinen Ergebnisse, trostlos mit Hinsicht auf die
ungeheure, "unter ihrem Wagen erdrückte" Hekatombe442 menschlicher Opfer -; daß
diese Milliarden schattenhafter Individuen, ohne welche aber keines dieser
großen abstrakten Resultate der Geschichte erreicht worden wäre und die,
wohlgemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Ergebnisse hatten; daß diese
Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der Geschichte finden
würden. Sie lebten und wurden zum Wohl der abstrakten Humanität geopfert und
vernichtet.
Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre
lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfaßbar für das Denken, die
Überlegung, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstraktionen auszudrücken
fähig ist, unfaßbar in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Auch die
Sozialwissenschaft, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notgedrungen
fortfahren, sie nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Wir haben nur
das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie uns mit fester und treuer Hand die
allgemeinen Ursachen der persönlichen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen
wird sie gewiß die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden
Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten nicht vergessen, und sie möge
uns gleichzeitig die allgemeinen Bedingungen der wirklichen Befreiung der
lebenden Individuen in der Gesellschaft zeigen. Dies ist ihre Aufgabe, dies sind
auch ihre Grenzen, außerhalb welcher die Tätigkeit der Sozialwissenschaft nur
ohnmächtig und verhängnisvoll sein könnte. Denn jenseits dieser Grenzen beginnen
die doktrinären und Regierungsansprüche ihrer patentierten Vertreter, ihrer
Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen Päpsten und Priestern ein Ende zu
machen: Wir wollen keine mehr, selbst wenn sie sich sozialistische Demokraten
nennen würden.
Noch einmal: Die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, den Weg zu erhellen. Aber
nur das von allen Regierungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner
natürlichen Tätigkeit wiedergegebene Leben kann schöpferisch tätig sein. Wie ist
dieser Widerspruch zu lösen? Die Wissenschaft ist einerseits zur vernünftigen
Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie
unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht
um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.
Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst werden: durch die Auflösung der
Wissenschaft als außerhalb des sozialen Lebens aller existierendes Wesen, das
als solches von einer Körperschaft patentierter Gelehrter vertreten wird, und
durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist,
hinfort das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft zu vertreten, muß wirklich
Eigentum aller werden. Ohne ihren universellen Charakter zu verlieren, den sie
nie aufgeben kann, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein, und fortfahrend sich
mit den allgemeinen Verhältnissen und Beziehungen der Individuen und Dinge zu
beschäftigen, wird sie tatsächlich mit dem unmittelbaren und wirklichen Leben
aller Individuen verschmelzen. Diese Bewegung wird derjenigen ähnlich sein,
welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, daß man jetzt
keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester werde,
da jeder Mensch allein dank der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu
Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe. Aber hier handelt es sich nicht um
den Herrn Jesus Christus, noch um den Herrgott, noch um politische Freiheit,
juristisches Recht, was bekanntlich alles theologisch oder metaphysisch
offenbarte und gleich unverdauliche Dinge sind. Die Welt der wissenschaftlichen
Abstraktionen ist nicht offenbart, sie ist der wirklichen Welt eigen und ist
deren Ausdruck und allgemeine oder abstrakte Darstellung. Solange diese ideale
Welt eine getrennte Region bildet, die speziell von der Körperschaft der
Gelehrten vertreten wird, droht sie der wirklichen Welt gegenüber den Platz
Gottes einzunehmen und ihren patentierten Vertretern das Priesteramt
vorzubehalten. Deshalb ist es notwendig, durch allgemeinen, für alle und alle
Geschlechter gleichen Unterricht die abgeschlossene soziale Organisation der
Wissenschaft aufzulösen, damit die Massen aufhören, von bevorrechteten Hirten
geführte und geschorene Herden zu sein, und von jetzt ab ihr Schicksal selbst in
die Hand nehmen können.(6)
Dürfen aber die Massen, bis sie diesen Bildungsgrad erreicht haben, von den
Männern der Wissenschaft geleitet werden? Gott bewahre! Es wäre für sie besser,
sich ohne Wissenschaft zu behelfen, als sich von den Gelehrten regieren zu
lassen. Die erste Folge einer Gelehrtenregierung wäre, daß die Wissenschaft dem
Volke unzugänglich würde, und eine solche Regierung würde notwendigerweise eine
aristokratische sein, weil die Wissenschaft, wie sie gegenwärtig besteht, eine
aristokratische Einrichtung ist. Aristokratie der Intelligenz - in praktischer
Beziehung die unbarmherzigste, in sozialer Hinsicht die anmaßendste und
herausforderndste -, dies wäre die im Namen der Wissenschaft errichtete Macht.
Diese Regierung wäre imstande, Leben und Bewegung der Gesellschaft zu lahmen.
Die Gelehrten, die immer anspruchsvoll und dünkelhaft, immer ohnmächtig sind,
würden sich um alles kümmern wollen, und alle Quellen des Lebens würden unter
ihrem abstrakten und gelehrten Hauch austrocknen. Noch einmal: Das Leben, nicht
die Wissenschaft, schafft das Leben; nur die natürliche Tätigkeit des Volkes
selbst kann die Volksfreiheit schaffen. Es wäre gewiß ein großes Glück, wenn die
Wissenschaft schon heute den natürlichen Zug des Volkes seiner Befreiung
entgegen erhellen könnte. Aber gar kein Licht ist noch besser als ein falsches,
das spärlich von außen leuchtet mit dem klaren Zweck, das Volk irrezuführen.
Übrigens wird das Licht dem Volk nicht ganz fehlen. Nicht vergeblich durchlief
ein Volk eine lange geschichtliche Laufbahn und zahlte für seine Irrtümer mit
Jahrhunderten schrecklicher Leiden. Die praktische Zusammenfassung dieser
schmerzlichen Erfahrungen bildet eine Art überlieferter Wissenschaft, die in
gewisser Hinsicht so viel wert ist wie die theoretische Wissenschaft. Endlich
werden Teile der studierenden Jugend, diejenigen Bourgeois-Studenten, die
hinreichend Haß gegen die Lüge, die Heuchelei, die Nichtswürdigkeit und Feigheit
der Bourgeoisie empfinden, um in sich den Mut zu finden, ihr den Rücken zu
kehren, und hinreichende Leidenschaft, um ohne Vorbehalt die gerechte und
menschliche Sache des Proletariats zu der ihren zu machen, wie ich schon sagte,
die brüderlichen Unterweiser des Volkes sein; wenn sie ihm die noch fehlenden
Kenntnisse bringen, werden sie die Regierung der Gelehrten ganz unnötig machen.
Wenn das Volk sich vor der Regierung der Gelehrten hüten muß, so muß es noch
mehr vor der der erleuchteten Idealisten auf der Hut sein. Je aufrichtiger diese
Gläubigen und Dichter des Himmels sind, desto gefährlicher werden sie. Die
wissenschaftliche Abstraktion, sagte ich, ist eine vernünftige, in ihrem Wesen
wahre Abstraktion, die dem Leben notwendig ist, dessen theoretische Darstellung,
dessen Bewußtsein sie ist. Sie kann und muß vom Leben aufgenommen und
verarbeitet werden. Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift,
welches das Leben zerstört und zersetzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der
Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbesiegbar
und unversöhnlich. Er kann und muß sterben, wird aber nie weichen, und noch mit
dem letzten Atemzug wird er versuchen, die Welt unter den Fuß seines Gottes zu
knechten, geradeso wie die preußischen Leutnants, diese praktischen Idealisten
Deutschlands, sie unter dem gespornten Stiefel ihres Königs zertreten zu sehen
wünschen. Der Glaube ist derselbe - seine Gegenstände sind nicht einmal sehr
verschieden -, und der Glaube zeitigt dasselbe Ergebnis: Knechtschaft.
Dies ist gleichzeitig der Triumph des krassesten und brutalsten Materialismus:
Für Deutschland bedarf dies keines Beweises, denn man müßte wirklich blind sein,
um es im gegenwärtigen Augenblick nicht zu sehen. Aber ich halte es für nötig,
dies auch in bezug auf den göttlichen Idealismus zu beweisen. Der Mensch ist,
wie die ganze übrige Welt, ein vollständig materielles Wesen. Der Geist, die
Fähigkeit zu denken, die verschiedenen äußeren und inneren Eindrücke zu
empfangen und zurückzuwerfen, sich der vergangenen zu erinnern und sie durch das
Gedächtnis wieder hervorzubringen, sie zu vergleichen und zu unterscheiden,
gemeinsame Eigenschaften zu abstrahieren und so allgemeine oder abstrakte
Begriffe zu schaffen, schließlich durch verschiedene Gruppierung und
Zusammenfassung der Begriffe Ideen zu bilden, - die Intelligenz mit einem Wort,
der einzige Schöpfer all unserer idealen Welt, gehört dem tierischen Körper an
und insbesondere der ganz materiellen Organisation des Gehirns.
Wir wissen dies ganz bestimmt durch die allgemeine Erfahrung, die durch nichts
je widerlegt wurde und die jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens
nachprüfen kann. In allen Tieren, die niedrigsten Arten nicht ausgenommen,
finden wir einen gewissen Grad von Intelligenz, und wir sehen, daß in der Reihe
der Arten die tierische Intelligenz sich um so mehr entwickelt, je mehr sich der
Organismus einer Art dem des Menschen nähert, daß sie aber im Menschen allein zu
jener Macht der Abstraktion gelangt, welche eigentlich das Denken ausmacht.
Die allgemeine Erfahrung,(7) welche in ihrer Ganzheit der einzige Ursprung, die
Quelle all unserer Kenntnisse ist, zeigt uns also erstens, daß jedes Tier
Intelligenz besitzt, zweitens, daß die Intensität, die Kraft dieser tierischen
Funktion, von der relativen Vollkommenheit des tierischen Organismus abhängt.
[...] Andererseits ist es sicher, daß kein Mensch je den reinen, von jeder
körperlichen Form losgelösten, von einem tierischen Körper getrennten Geist sah
oder sehen konnte. Wenn ihn aber nie jemand sah, wie konnten die Menschen zu dem
Glauben an seine Existenz gelangen? Denn dieser Glaube steht allgemein fest, und
er ist, wenn auch nicht universell, wie die Idealisten behaupten, so doch
wenigstens sehr allgemein und als solcher ganz unserer aufmerksamen Beachtung
wert; denn ein allgemeiner Glaube, wie dumm er auch sein mag, übt immer einen
allzu mächtigen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit aus, als daß es erlaubt
wäre, ihn außer acht zu lassen oder von ihm abzusehen.
Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und
vernünftige Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen
Erwachsenen, zeigt uns, daß der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange
gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt,
bevor er zum klaren und genauen Bewußtsein dieser Ausübung kommt. In dieser
Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewußt in Tätigkeit tritt, in der die
Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt
bedrückte Mensch, von dem inneren Stachel, dem Leben und den vielartigen
Bedürfnissen des Lebens getrieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen,
die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Wirklichkeit der
Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen.
Und da er sich seiner eigenen Verstandestätigkeit nicht bewußt ist, da er noch
nicht weiß, daß er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen hervorbringt
und hervorzubringen fortfährt, da er selbst ihren ganz subjektiven, das heißt
menschlichen Ursprung nicht kennt, betrachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit
als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig
durch sich selbst und in sich selbst sind.
Auf diese Weise schufen die Naturvölker, die langsam ihre tierische Unschuld
verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, daß
sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten
sie als wirkliche, ihnen selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen
Allmacht bei und erklärten sich als ihre Geschöpfe, ihre Sklaven. Mit der
Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisierten sich auch die Götter,
die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische
Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Fetischen
wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt
existieren, und zum Schluß, als Folge einer langen geschichtlichen Entwicklung,
verschmolzen sie in ein einziges göttliches Wesen, den reinen, ewigen, absoluten
Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten.
In jeder richtigen oder falschen, wirklichen oder eingebildeten Entwicklung
kostet immer der erste Schritt am meisten, ist die erste Handlung die
schwierigste. Wenn der erste Schritt getan, die erste Handlung vollzogen, folgt
das übrige in natürlicher Weise als notwendige Folge. Das Schwierige in der
geschichtlichen Entwicklung dieses schrecklichen religiösen Wahnsinns, der uns
noch immer besessen hält und erdrückt, war also die Aufstellung einer göttlichen
Welt als solcher, außerhalb der wirklichen Welt. Dieser erste Akt der
Verrücktheit, so natürlich er vom psychologischen Gesichtspunkt und so notwendig
er demzufolge in der Geschichte der Menschheit sein mag, vollzog sich nicht auf
einen Schlag. Es brauchte ich weiß nicht wie viele Jahrhunderte, um diesen
Glauben zu entwickeln und in die geistigen Gewohnheiten der Menschen eindringen
zu lassen. Nachdem er sich aber einmal festgesetzt hatte, wurde er allmächtig,
wie dies notwendigerweise jede Verrücktheit wird, die sich des menschlichen
Gehirns bemächtigt. Man nehme einen Narren: Welches immer der besondere
Gegenstand seiner Narrheit sein mag, man wird finden, daß die dunkle und fixe
Idee, die von ihm Besitz ergriffen, ihm die natürlichste Sache von der Welt
scheint, während dagegen die dieser Idee widersprechenden natürlichen und
wirklichen Tatsachen ihm lächerlicher und verhaßter Wahnsinn zu sein scheinen.
Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der um so mächtiger ist, weil es
ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste
Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und
privaten Einzelheiten des sozialen Daseins eines Volkes ein, verkörperte sich in
der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder
Mensch ist von seiner Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch
in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so
sehr genährt, vergiftet und in seinem ganzen Wesen durchdrungen, daß er später,
wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen
machen muß, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig.
Unsere modernen Idealisten sind ein Beweis hierfür; ein weiterer Beweis sind
unsere doktrinären Materialisten, die deutschen Kommunisten: Sie konnten sich
von der Religion des Staates nicht losmachen.
Sobald einmal die übernatürliche, die göttliche Welt sich in der überlieferten
Einbildung der Völker festgesetzt hatte, ging die Entwicklung der verschiedenen
religiösen Systeme ihren natürlichen und logischen Lauf, immer übrigens der
gleichzeitigen tatsächlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen
Beziehungen entsprechend, deren treue Wiedergabe und göttliche Weihe in der Welt
der religiösen Phantasie sie stets war. So entwickelte sich der gemeinsame
geschichtliche Wahnsinn, den man Religion nennt, vom Fetischismus, durch alle
Grade des Polytheismus bis zum christlichen Monotheismus.
Der zweite Schritt in der Entwicklung des religiösen Glaubens, nach der
Errichtung einer getrennten göttlichen Welt gewiß der schwerste, war gerade
dieser Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, vom religiösen Materialismus
der Heiden zum vergeistigten Glauben der Christen. Die heidnischen Götter, dies
war ihr wesentlicher Charakterzug, waren vor allem ausschließlich nationale
Götter. Da sie ferner zahlreich waren, bewahrten sie notwendigerweise mehr oder
weniger einen körperlichen Charakter, oder vielmehr, weil sie körperlich waren,
waren sie so zahlreich, da Verschiedenheit eine der Haupteigenschaften der
wirklichen Welt ist. Die heidnischen Götter waren noch nicht im eigentlichen
Sinn die Verneinung der wirklichen Dinge, sie waren nur ihre phantastische
Übertreibung.
Um auf den Trümmern ihrer so zahlreichen Altäre den Altar eines einzigen und
obersten Gottes, des Herrn der Welt, zu errichten, mußte also zuerst das
selbständige Dasein der verschiedenen Nationen der heidnischen oder antiken Welt
zerstört werden. Dies taten die Römer auf sehr brutale Weise; sie schufen durch
Eroberung des größten Teils der den Alten bekannten Welt gewissermaßen den
ersten, gewiß noch ganz negativen und groben Entwurf der Idee der Menschheit.
[...] Die große Ehre des Christentums, sein unbestreitbares Verdienst und das
ganze Geheimnis seines unerhörten und übrigens ganz berechtigten Triumphs war,
daß es sich an das ungeheure leidende Volk wandte, dem die antike Welt, die eine
enge und grausame geistige und politische Aristokratie bildete, auch die letzten
Eigenschaften und einfachsten Rechte der Menschheit verweigerte. Sonst hätte es
sich nie verbreiten können. Die von den Aposteln Christi gepredigte Lehre, so
trostreich sie den Unglücklichen erscheinen mochte, war vom Gesichtspunkt der
menschlichen Vernunft aus zu empörend, zu unsinnig, als daß aufgeklärte Männer
sie hätten annehmen können. Wie triumphierend spricht nicht auch der heilige
Apostel Paulus von dem Ärgernis des Glaubens und dem Triumph dieser göttlichen
Narrheit, welche die Mächtigen und Weisen der Zeit zurückwiesen, welche aber um
so leidenschaftlicher von den Einfachen, den Unwissenden und den Armen im Geiste
angenommen wurde!
Es muß wirklich sehr tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben, sehr großer Durst des
Herzens und beinahe vollständige Geistesarmut vorhanden sein, um die christliche
Sinnlosigkeit anzunehmen, die kühnste und ungeheuerlichste aller religiösen
Sinnlosigkeiten. Sie war nicht nur die Verneinung aller politischen, sozialen
und religiösen Einrichtungen des Altertums, sondern der unbedingte Umsturz des
gesunden Menschenverstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich
existierende Wesen, die wirkliche Welt, wurden von jetzt ab als das Nichts
betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und
höchste Abstraktion, in welcher diese Fähigkeit nach Überschreitung aller
existierenden Dinge, der allgemeinsten Bestimmungen des lebenden Wesens wie der
Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrig bleibt,
in der Betrachtung ihrer Lehre und absoluten Unbeweglichkeit ruht, - diese
Abstraktion also, dieser tote Rückstand, jeden Inhalts leer, das wahre
Nichts,Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen
proklamiert. Das wirkliche All wird als Nichts erklärt und das absolute Nichts
als All. Der Schatten wird Körper und der Körper verschwindet wie ein
Schatten.(8)
Es war eine unerhörte Kühnheit und Sinnlosigkeit, das wahre Ärgernis des
Glaubens, der Sieg der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen und für
einige wenige der triumphierende Spott eines ermüdeten, verdorbenen,
enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte,
das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei
abgestumpften Geistern findet: Credo quia absurdum ("Ich glaube nicht nur an das
Unsinnige; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Unsinnige
ist.") So glauben viele ausgezeichnete und aufgeklärte Geister in unseren Tagen
an den tierischen Magnetismus, den Spiritismus, das Tischerücken, - aber warum
so weit gehen? - sie glauben noch an das Christentum, an den Idealismus, an
Gott.
Der Glaube des antiken Proletariats, ebenso wie der der modernen Massen nach
ihm, war derber und einfacher. Die christliche Lehre hatte sich an sein Herz
gewendet, nicht an seinen Geist, an sein ewiges Trachten, seine Bedürfnisse,
seine Leiden, seine Sklaverei, nicht an seine noch schlummernde Vernunft, für
welche die logischen Widersprüche, die augenscheinliche Sinnlosigkeit also,
nicht existieren konnten. Die einzige Frage, welche das antike Proletariat
interessierte, war die, wann die Stunde der versprochenen Erlösung schlagen,
wann das Reich Gottes kommen würde. Um die theologischen Dogmen kümmerte es sich
nicht, weil es nichts davon verstand. Das zum Christentum bekehrte Proletariat
bildete seine aufsteigende materielle Macht, nicht sein theoretisches Denken.
Die christlichen Dogmen wurden bekanntlich in einer Reihe literarischer
theologischer Arbeiten und auf den Kirchenversammlungen hauptsächlich von den
bekehrten Neuplatonikern des Orients ausgearbeitet. Der griechische Geist war so
tief gesunken, daß wir schon im vierten christlichen Jahrhundert, der Zeit der
ersten Kirchenversammlung, die Idee eines persönlichen Gottes, des reinen,
ewigen, absoluten Geistes, des Schöpfers und obersten Herrn der Welt, der
außerhalb der Welt existiert, von allen Kirchenvätern einstimmig angenommen
finden, und als logische Konsequenz dieser absoluten Sinnlosigkeit den jetzt
natürlichen und notwendigen Glauben an die Geistigkeit und Unsterblichkeit der
menschlichen Seele, die in einem sterblichen, aber nur zum Teil sterblichen
Körper wohnt und eingesperrt ist; - nur zum Teil sterblich, weil ein Teil dieses
Körpers, obgleich körperlich, unsterblich wie die Seele ist und wie die Seele
wieder auferstehen wird. So schwer wurde es selbst Kirchenvätern, sich den
reinen Geist außerhalb jeder Körperform vorzustellen!
Im allgemeinen liegt es in der Art aller theologischen und auch metaphysischen
Gedankengänge zu versuchen, eine Sinnlosigkeit durch eine andere zu erklären.
Es war ein großes Glück für das Christentum, daß es die Welt der Sklaven fand.
Ein anderes Glück widerfuhr ihm: der Einfalt der Barbaren. Die Barbaren waren
tapfere Leute, voll natürlicher Kraft, und vor allem belebt und getrieben von
großem Lebensbedürfnis und großer Lebensfähigkeit; erprobte Räuber, fähig, alles
zu verwüsten und zu verschlingen, wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen;
viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere,
weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhängiger und stolzer,
fähig der Wissenschaft und der Freiheit nicht unfähig wie die Bourgeois des
modernen Deutschland. Aber trotz all dieser großen Eigenschaften waren sie
nichts als Barbaren, das heißt, allen Fragen der Theologie und Metaphysik
gegenüber ebenso gleichgültig wie die antiken Sklaven, von denen übrigens viele
ihrer Rasse angehörten. Sobald also einmal ihr praktischer Widerwille gebrochen
war, war es nicht schwer, sie theoretisch zum Christentum zu bekehren.
Zehn Jahrhunderte nacheinander konnte das mit der Allmacht der Kirche und des
Staates bewaffnete Christentum ohne Beeinträchtigung von irgendwelcher Seite den
Geist Europas verderben, verschlechtern und fälschen. Es hatte keine Rivalen,
weil es außerhalb der Kirche keine Denker, nicht einmal Gebildete gab. Die
Kirche allein dachte, sprach, schrieb und lehrte. Ketzereien, die in ihrem Schoß
entstanden, griffen stets nur die theologischen oder praktischen Entwicklungen
des Grunddogmas an, nicht dieses Dogma selbst. Der Glaube an Gott, den reinen
Geist und Schöpfer der Welt, und der Glaube an die Geistigkeit der Seele blieben
unberührt. Dieser Doppelglaube wurde die ideale Grundlage der ganzen westlichen
und östlichen Kultur Europas und drang in alle Einrichtungen ein, verwirklichte
sich in allen Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens aller Klassen
ebenso wie der Massen. Kann man sich dann wundern, daß dieser Glaube sich bis
zum heutigen Tag erhalten hat und fortfährt, seinen verhängnisvollen Einfluß
selbst auf so hohe Geister wie Mazzini, Quinet, Michelet und so viele andere
auszuüben? Wir sahen, daß ihm der erste Kampf von der Renaissance des freien
Geistes im 15. Jahrhundert geliefert wurde, der Renaissance, welche Helden und
Märtyrer hervorbrachte wie Vanini, wie Giordano Bruno und Galilei; obgleich bald
erstickt von dem Lärm, Tumult und den Leidenschaften der Reformation, setzte sie
geräuschlos ihre unsichtbare Arbeit fort und hinterließ den edelsten Geistern
jeder Generation das Werk menschlicher Befreiung durch die Zerstörung des
Unsinnigen, bis sie endlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder im
vollen Tageslicht erschien und kühn die Fahne des Atheismus und Materialismus
entrollte.
Man hätte damals glauben können, daß der menschliche Geist sich ein für allemal
von jedem göttlichen Druck befreien würde. Dies war ein Irrtum. Die Gotteslüge,
mit der sich die Menschheit - um nur von der christlichen Welt zu sprechen - 18
Jahrhunderte lang genährt hatte, sollte sich noch einmal mächtiger als die
menschliche Wahrheit zeigen. Da sie sich nicht mehr der Schwarzröcke, der
geweihten Raben der Kirche, der katholischen oder protestantischen Priester, die
jedes Vertrauen verloren hatten, bedienen konnte, so bediente sie sich der
Laienpriester, der Lügner und Sophisten im kurzen Rock, und die Hauptrolle fiel
zwei verhängnisvollen Männern unter ihnen zu: dem falschen Geist und dem
doktrinär despotischsten Willen des vergangenen Jahrhunderts, J. J. Rousseau und
Robespierre.
Der erstere ist der wahre Typus der Lüge und argwöhnischen Kleinlichkeit, der
Überhebung der eigenen Person, der kalten Begeisterung und sentimentaler und
gleichzeitig unbarmherziger Heuchelei, der notwendigen Lüge des modernen
Idealismus. Man kann ihn als den wahren Schöpfer der modernen Reaktion
betrachten. Während er dem Anschein nach der demokratischste Schriftsteller des
18. Jahrhunderts ist, brütet in ihm der erbarmungslose Despotismus des
Staatsmanns. Er war der Prophet des doktrinären Staats, dessen Hohepriester
Robespierre, sein würdiger und treuer Schüler, zu werden versuchte. Rousseau
hörte Voltaire sagen, daß, wenn es keinen Gott gäbe, er erfunden werden müsse,
und er erfand das höchste Wesen, den abstrakten und leeren Gott der Deisten. Und
im Namen des höchsten Wesens und der von ihm befohlenen heuchlerischen Tugend
guillotinierte Robespierre zuerst die Hebertisten, dann den Genius der
Revolution, Danton, in dessen Person er die Republik ermordete, um so den von da
ab notwendig gewordenen Triumph der Diktatur Bonapartes vorzubereiten. Nach
diesem großen Sieg suchte und fand die idealistische Reaktion weniger
fanatische, weniger schreckliche Diener, wenn man sie an dem bedeutend
geringeren Maßstab der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts mißt. In Frankreich
waren es Chateaubriand, Lamartine und - soll ich es sagen? Warum nicht? Man muß
die ganze Wahrheit sagen - Victor Hugo, der Demokrat, der Republikaner, der
Schein-Sozialist von heute, und nach ihnen die ganze melancholische und
sentimentale Kohorte magerer und blasser Geister, die unter der Führung jener
Meister die Schule des modernen Romantismus bildeten. In Deutschland waren es
die Schlegel, die Tieck, die Novalis, die Werner, waren es Schelling und so
viele andere, deren Namen nicht einmal genannt zu werden verdienen.
Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und
Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben.
Ebensowenig vertrug sie die brutale Berührung der Massen; es war die Literatur
der zarten, feinen, ausgezeichneten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat,
zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und
verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen
sprach, zeigte sie sich offen reaktionär und nahm die Partei der Kirche gegen
die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei der Könige gegen die Völker und
die Partei aller Aristokratien gegen das elende Straßengesindel. Übrigens
herrschte in dieser Schule, wie ich soeben sagte, beinahe vollständige
Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen vor. In den Wolken, in denen sie
lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die rasche
Entwicklung des Bourgeois-Materialismus und die zügellose Entfesselung
persönlicher Eitelkeit.
Um diese Literatur zu verstehen, muß man ihre Entstehungsursache in der
Umwandlung suchen, die sich in der Bourgeois-Klasse seit der Revolution von 1793
vollzog. Von der Renaissance und der Reformation bis zu dieser Revolution war
die Bourgeoisie, wenn nicht in Deutschland, so doch wenigstens in Italien,
Frankreich, der Schweiz, England und Holland der Held und Vertreter des
revolutionären Geistes der Geschichte. Aus ihr gingen der größte Teil der
Freidenker des 15. Jahrhunderts, die großen religiösen Reformatoren der beiden
folgenden Jahrhunderte und die Apostel der menschlichen Befreiung des 18.
Jahrhunderts hervor, diesmal die Deutschlands Inbegriffen. Sie allein, natürlich
auf die Sympathien und den mächtigen Arm des Volkes, das an sie glaubte,
gestützt, machte die Revolution von 1789 und 1793. Sie verkündete den Fall des
Königtums und der Kirche, die Verbrüderung der Völker, die Menschen- und
Bürgerrechte. Dies sind ihre unsterblichen Ruhmestitel.
Seit jener Zeit spaltete sie sich. Eine beträchtliche Partei reich gewordener
Käufer von Nationalgütern, die sich diesmal nicht auf das städtische
Proletariat, sondern auf die Mehrheit der gleichfalls Grundbesitzer gewordenen
Bauern Frankreichs stützte, strebte den Frieden, die Wiederherstellung der
öffentlichen Ordnung, die Gründung einer regelmäßigen und mächtigen Regierung
an. Voll Glück jauchzte sie also der Diktatur des ersten Bonaparte zu und sah,
obgleich stets voltairiansch gesinnt, dessen Abkommen mildem Papst und die
Wiederherstellung der offiziellen Kirche in Frankreich nicht mit bösem Auge an:
"Die Religion ist dem Volke so notwendig!" - was heißen will, daß dieser nun
selbst gesättigte Teil der Bourgeoisie von jetzt ab zu verstehen begann, daß es
im Interesse der Erhaltung seiner Lage und seiner neu erworbenen Güter dringend
notwendig sei, den ungesättigten Hunger des Volkes durch Versprechungen
himmlischen Mannas zu täuschen. Damals begann Chateaubriand zu predigen.(9)
Napoleon fiel. Die Restauration führte mit der rechtmäßigen Monarchie die Macht
der Kirche und die Aristokratie nach Frankreich zurück, welche, wenn nicht ihre
ganze, so doch einen beträchtlichen Teil ihrer früheren Macht wiederergriffen
hat. Diese Reaktion warf die Bourgeoisie in die Revolution zurück, und mit dem
revolutionären Geist erwachte auch der Freigeist wieder. Sie legte Chateaubriand
beiseite und begann wieder Voltaire zu lesen. Sie ging nicht bis Diderot: Ihre
geschwächten Nerven vertrugen keine so starke Kost mehr. Voltaire, der
gleichzeitig Freigeist und Deist war, paßte ihr dagegen sehr. Böranger und
Paul-Louis Courier drückten ganz und gar diese neue Richtung aus. Der "Gott der
braven Leute" und das Ideal des Bürgerkönigs, der zugleich liberal und
demokratisch ist und sich vom majestätischen und jetzt weniger offensiven
Hintergrund der gigantischen Siege des Kaiserreiches abhebt, - dies war in jener
Zeit die tägliche geistige Nahrung der französischen Bourgeoisie. Lamartine, von
dem eitel lächerlichen Neid angestachelt, sich zur poetischen Höhe des großen
englischen Dichters Byron zu erheben, hatte seine kalt delirierenden Hymnen zu
Ehren des Gottes der Adligen und der rechtmäßigen Monarchie begonnen. Aber seine
Gesänge hallten nur in den aristokratischen Salons wider. Die Bourgeoisie hörte
sie nicht. Beranger war ihr Dichter und Paul-Louis Courier ihr politischer
Schriftsteller.
Die Juli-Revolution hatte die Veredlung ihres Geschmacks zur Folge. Man weiß,
daß jeder Bourgeois in Frankreich den unverwüstlichen Typus des >bourgeois
gentil-homme< (Der Bürger als Edelmann) in sich trägt, der stets hervortritt,
sobald er ein bißchen Reichtum und Macht erwirbt. 1830 hatte die reiche
Bourgeoisie endgültig den alten Adel im Besitz der Macht verdrängt. Sie strebte
natürlich die Gründung einer neuen Aristokratie an: einer Aristokratie des
Geldes vor allem, aber auch einer Aristokratie des Geistes, des guten Benehmens
und der feinen Gefühle. Die Bourgeoisie begann sich religiös zu fühlen.
Das war von ihrer Seite nicht nur eine bloße Nachäffung der aristokratischen
Sitten, sondern auch eine notwendige Folge ihrer Lage. Das Proletariat hatte ihr
einen letzten Dienst erwiesen, indem es ihr half, den Adel nochmals zu stürzen.
Jetzt brauchte die Bourgeoisie diese Hilfe nicht mehr, denn sie fühlte, daß sie
im Schatten des Julithrons sicher war, und die von jetzt ab unnütze Verbindung
mit dem Volk begann ihr unbequem zu werden. Das Volk mußte auf seinen Platz
verwiesen werden, was natürlich nicht möglich war, ohne große Entrüstung in den
Massen hervorzurufen. Es wurde notwendig, dieselben zurückzuhalten. Aber in
wessen Namen? Etwa im Namen des ohne Umschweife zugegebenen
Bourgeois-Interesses? Dies wäre zu schamlos gewesen. Je ungerechter,
unmenschlicher ein Interesse ist, desto mehr bedarf es einer Weihe, und wo eine
solche hernehmen, wenn man sie nicht in der Religion findet, dieser guten
Beschützerin aller Satten und der so nützlichen Trösterin aller Hungrigen? Und
mehr als je fühlte die triumphierende Bourgeoisie, daß die Religion dem Volke
unbedingt notwendig sei.
Nachdem sie all ihre unvergänglichen Ruhmestitel in religiöser, philosophischer
und politischer Opposition, im Protest und in der Revolution gewonnen hatte, war
die Bourgeoisie endlich die herrschende Klasse geworden und hierdurch von selbst
Verteidigerin und Erhalterin des Staates, der seinerseits die regelrechte
Einsetzung der ausschließlichen Macht dieser Klasse ist. Der Staat ist die
Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende
Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot. Aber der Mensch ist so
sonderbar beschaffen, daß ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie
scheint, auf die Dauer nicht genügt. Um ihm Achtung einzuflößen, ist irgendeine
moralische Weihe absolut notwendig. Diese Weihe muß ferner so augenscheinlich
und einfach sein, daß sie die Massen überzeugen kann, die, von der Gewalt des
Staates niedergerungen, hierauf zur moralischen Anerkennung seines Rechts
gebracht werden müssen.
Es gibt nur zwei Mittel, die Massen von der Güte irgendeiner sozialen
Einrichtung zu überzeugen. Das erste, das einzige wirkliche, aber auch das
schwerste, weil es die Abschaffung des Staates mit sich bringt - das heißt die
Abschaffung der politisch organisierten Ausbeutung der Mehrheit durch irgendeine
Minderheit -, dieses Mittel wäre die direkte und vollständige Befriedigung aller
Bedürfnisse, aller menschlichen Strebungen der Massen; dies käme der
vollständigen Auflösung der politischen und wirtschaftlichen Existenz der
Bourgeois-Klasse gleich und, wie ich soeben sagte, auch der Abschaffung des
Staates. Dieses Mittel wäre zweifellos heilbringend für die Massen, aber
verhängnisvoll für die Bourgeois-Interessen. Es kommt also nicht in Betracht.
Sprechen wir von dem anderen Mittel, das nur für das Volk verhängnisvoll,
dagegen für das Wohl der Bourgeois-Vorrechte wertvoll ist. Dieses andere Mittel
kann nur die Religion sein. Es ist jene ewige Luftspiegelung, welche die Massen
auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während die herrschende
Klasse viel bescheidener sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das
menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit
inbegriffen, unter ihre eigenen Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art
übrigens und so, daß der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält.
Es gibt, es kann keinen Staat ohne Religion geben. Man nehme die freiesten
Staaten der Erde, die Vereinigten Staaten von Nordamerika oder die Schweiz, und
sehe, welch wichtige Rolle die göttliche Vorsehung, diese oberste Weihe aller
Staaten, in allen offiziellen Reden spielt. Jedesmal aber, wenn ein
Staatsoberhaupt von Gott spricht, sei es Wilhelm I., der knutogermanische
Kaiser, oder Grant, der Präsident der großen Republik, kann man sicher sein, daß
er sich vorbereitet, seine Volksherde von neuem zu scheren.
Die französische Bourgeoisie, liberal, voltairianisch und von ihrem Temperament
zu einem eigentümlich engen und brutalen Positivismus, um nicht zu sagen
Materialismus getrieben, mußte sich also, nachdem sie durch ihren Triumph von
1830 die Staatsklasse geworden, notwendigerweise eine offizielle Religion geben.
Die Sache war nicht leicht. Sie konnte sich nicht unvermittelt unter das Joch
des römischen Katholizismus begeben. Zwischen ihr und der Kirche von Rom lag ein
Abgrund von Blut und Haß, und wie praktisch und klug man auch geworden sein mag,
man unterdrückt doch nie in sich eine geschichtlich gewordenen Leidenschaft. Der
französische Bourgeois hätte sich übrigens mit Lächerlichkeit bedeckt, wenn er
zur Kirche zurückgekehrt wäre, um an den frommen Zeremonien des Gotteskults
teilzunehmen, der Hauptbedingung einer verdienstlichen und aufrichtigen
Bekehrung. Mehrere versuchten es wohl, aber das Ergebnis ihres Heroismus war nur
unfruchtbarer Skandal. Die Rückkehr zum Katholizismus war endlich wegen des
unlösbaren Widerspruches zwischen der unveränderlichen Politik Roms und der
Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Interessen des Mittelstandes
unmöglich. In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel bequemer. Er ist die
Bourgeois-Religion par excellence.
Anmerkungen:
1) Der Leser wird eine vollständigere Darstellung dieser drei Prinzipien in dem
Anhang dieses Buches finden, unter dem Titel: Philosophische Betrachtungen über
das göttliche Phantom, über die wirkliche Welt und über den Menschen.
2) Ich nenne es "frevelhaft", weil, wie ich in dem erwähnten Anhang erwiesen zu
haben glaube, dieses Geheimnis die Weihe aller in der Welt der Menschen
begangenen und noch stattfindenden Greuel war und ist, und ich nenne es
"einzig", weil alle anderen theologischen und metaphysischen Sinnlosigkeiten,
die den Menschengeist verdummen, nur die notwendigen Folgen dieses Geheimnisses
sind.
3) Herr Stuart Mill ist vielleicht der einzige, dessen ernstgemeinten Idealismus
zu bezweifeln erlaubt ist, aus zwei Gründen: erstens, weil er, wenn auch nicht
ein unbedingter Schüler, so doch ein leidenschaftlicher Bewunderer, ein Anhänger
der positiven Philosophie Auguste Comtes ist, welche, trotz ihrer vielen
Verschweigungen, in Wirklichkeit atheistisch ist; zweitens, weil Herr Stuart
Mill Engländer ist und in England sich als Atheist zu erklären selbst heute noch
bedeutet, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen.
4) Vor sechs oder sieben Jahren hörte ich Herrn Louis Blanc in London beinahe
dieselbe Idee ausdrücken: "Die beste Regierungsform", sagte er zu mir, "wäre
die, welche immer tugendhafte Männer von Genie an die Spitze der Regierung
brächte."
5) Ich fragte eines Tages Mazzini, welche Maßregeln man zur Befreiung des Volkes
treffen würde, wenn seine siegende unitäre Republik endgültig errichtet wäre?
"Die erste Maßregel", sagte er mir, "wird die Gründung von Schulen für das Volk
sein." - Und was wird man das Volk in diesen Schulen lehren? - "Die Pflichten
der Menschen, Aufopferung und Hingabe'." - Aber woher werden Sie eine
hinreichende Zahl Lehrer nehmen, um diese Dinge zu lehren, die keiner zu lehren
das Recht und die Fähigkeit hat, wenn er nicht selbst das Beispiel davon gibt?
Ist die Zahl der Menschen, die im Opfer und der Hingabe den höchsten Genuß
finden, nicht ungemein gering? Diejenigen, die sich im Dienst einer großen Idee
opfern, einer hohen Leidenschaft gehorchend und diese persönliche Leidenschaft
befriedigend, außerhalb welcher das Leben selbst jeden Wert in ihren Augen
verliert, diese denken gewöhnlich an ganz etwas anderes, als aus ihrer Handlung
eine Lehre zu machen; diejenigen aber, die eine Lehre daraus machen, vergessen
meist, sie in die Tat umzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil die Lehre das
Leben, die lebendige Freiwilligkeit der Aktion tötet. Männer wie Mazzini, bei
denen Lehre und Handlung eine bewunderungswürdige Einheit bilden, sind sehr
seltene Ausnahmen. Im Christentum gab es auch große heilige Männer, die alles,
was sie sagten, wirklich taten oder sich wenigstens leidenschaftlich bemühten,
es zu tun, deren von Liebe überschäumende Herzen voll Verachtung für die Genüsse
und Güter dieser Welt waren. Aber die ungeheure Mehrheit der katholischen,
protestantischen Geistlichen, die berufsmäßig die Lehre der Keuschheit,
Enthaltsamkeit und Entsagung predigten und predigen, widerrief allgemein ihre
Lehre durch ihr Beispiel. Nicht grundlos, sondern nach mehrhundertjähriger
Erfahrung bildeten sich bei den Völkern aller Länder Redensarten wie:
ausschweifend wie ein Pfaffe, ein Feinschmecker wie ein Pfaffe, ehrgeizig wie
ein Pfaffe, habgierig, selbstsüchtig und lüstern wie ein Pfaffe. Es steht also
fest, daß die von der Kirche geweihten Lehrer der christlichen Tugenden, die
Geistlichen, in ihrer ungeheuren Mehrheit das Gegenteil von dem taten, was sie
predigten. Dieses Zahlenverhältnis schon, die Allgemeinheit der Tatsache, zeigt,
daß die Schuld nicht den einzelnen zuzuschreiben ist, sondern der unmöglichen
und in sich selbst widerspruchsvollen sozialen Lage zufällt, in der sich die
einzelnen befinden. Die Lage der christlichen Geistlichen enthält einen
doppelten Widerspruch. Zuerst den zwischen der Lehre der Abstinenz und Entsagung
und den positiven Neigungen und Bedürfnissen der menschlichen Natur - Neigungen
und Bedürfnisse, die in einigen, stets sehr seltenen individuellen Fällen
beständig zurückgehalten, unter-' drückt und selbst völlig vernichtet werden
können durch den stetigen Einfluß einer mächtigen geistigen und moralischen '
Macht; die in gewissen Augenblicken kollektiver Überspannung gleichzeitig von
sehr vielen Menschen vergessen oder vernachlässigt werden können; die aber so
tief in der Menschennatur stecken, daß sie schließlich immer in ihre Rechte
treten, so daß sie, wenn sie gehindert werden, sich auf regelmäßige und normale
Weise zu äußern, zuletzt stets schädliche und ungeheuerliche Befriedigung
suchen. Dies ist ein Naturgesetz, das also unausweichlich, unwiderstehlich ist
und unter seinen verhängnisvollen Einfluß fallen unvermeidlich alle christlichen
Geistlichen und besonders die der römisch-katholischen Kirche. Dieses Gesetz
kann die Lehrer der Schule, das heißt die Priester der modernen Kirche, nicht
treffen, es sei denn, daß man auch sie zwinge, christliche Abstinenz und
Entsagung zu predigen. : Aber ein anderer Widerspruch ist beiden gemeinsam.
Dieser liegt im Titel und der Stellung des Lehrers. Ein Lehrer als Herr, der
befiehlt, unterdrückt und ausbeutet, ist eine sehr logische und ganz natürliche
Persönlichkeit. Aber ein Lehrer, der sich den ihm nach seinem göttlichen oder
menschlichen Vorrecht Untergebenen opfert, ist ein widerspruchsvolles und ganz
unmögliches Wesen. Das ist die Heuchelei selbst, die der Papst so gut
verkörpert, der sich den letzten Diener der Diener Gottes nennt - und nach
Christi Beispiel, zum Zeichen dessen, einmal jährlich die Füße von zwölf
römischen Bettlern wäscht - und gleichzeitig sich als Stellvertreter Gottes zum
absoluten und unfehlbaren Herrn der Welt aufwirft. Brauche ich daran zu
erinnern, daß die Priester aller Kirchen, weit entfernt, sich den ihnen
anvertrauten Herden zu opfern, dieselben stets opferten ausbeuteten und im
Herdenzustand erhielten, teils, um ihre eigenen persönlichen Leidenschaften zu
befriedigen, teils, um der Allmacht der Kirche zu dienen? Dieselben
Voraussetzungen und Ursachen bringen stets dieselben Wirkungen hervor. Ebenso
wird es aber den göttlich erleuchteten und vom Staat bevorrechteten Lehrern der
modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die einen unbewußt, die
anderen mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volkes für die
Macht des Staates und zum Nutzen der bevorzugten Klassen lehren.Muß man also
allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen?
Nein, durchaus nicht, man muß mit vollen Händen Bildung in den Massen verbreiten
und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen
gewidmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Befreiung verwandeln. Aber
verständigen wir uns zuerst: Schulen im eigentlichen Sinn dürfen in einer
normalen, auf die Gleichheit und die Achtung der menschlichen Freiheit
gegründeten Gesellschaft nur für Kinder und nicht für Erwachsene da sein; damit
sie Schulen der Befreiung und nicht der Knechtung werden, muß in ihnen vor allem
die Fiktion von Gott, dem ewigen und absoluten Verknechter, beseitigt werden;
Erziehung und Unterricht der Kinder müßten ganz auf die wissenschaftliche
Entwicklung der Vernunft und nicht des Glaubens gegründet werden, auf die
Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit, nicht auf die der
Frömmigkeit und des Gehorsams, auf den Kult der Wahrheit und Gerechtigkeit um
jeden Preis und vor allem auf die Achtung vor der Menschheit, welche in allem
und jedem an Stelle der Verehrung Gottes treten muß. Das Autoritätsprinzip
bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es ist rechtmäßig,
notwendig, wenn es auf Kinder in niedrigem Alter angewendet wird, deren
Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder
Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Verneinung des
Ausgangspunktes bildet, muß sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem
Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer
wachsenden Freiheit Platz machen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde
nichts anderes als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der
Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der, Menschen
zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der
erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum
einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe
vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der
größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder
göttlichen Prinzips der Autorität. Das Autoritätsprinzip wird, auf Erwachsene
oder Ältere angewendet, eine Ungeheuerlichkeit, eine scharfe Verneinung der
Menschlichkeit, eine Quelle geistiger und moralischer Sklaverei und
Verderbtheit. Unglücklicherweise ließen die väterlichen Regierungen die
Volksmassen in so tiefer Unwissenheit dahin brüten, daß es notwendig werden
wird, nicht nur für die Kinder des Volkes, sondern auch für das Volk selbst
Schulen zu gründen. Aber aus diesen Schulen müssen die geringsten Anwendungen
oder Äußerungen des Autoritätsprinzips unbedingt entfernt werden. Es werden
nicht mehr Schulen sein, sondern Volksakademien, in denen nicht mehr von
Schülern und Lehrern die Rede sein kann, in welche das Volk, wie es dies für
nötig hält, frei kommt, freien Unterricht zu nehmen, und in denen es nach seiner
eigenen Erfahrung seinerseits die Lehrer, die ihm unbekannte Kenntnisse bringen,
in vielem unterweisen kann. Das wird also ein gegenseitiger Unterricht sein, ein
Akt geistiger Brüderlichkeit zwischen der gebildeten Jugend und dem Volk. Die
wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige
große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und vernünftige Autorität, die
einzige, die wir achten können, wird die des kollektiven und öffentlichen
Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und die
gegenseitige menschliche Achtung all ihrer Mitglieder gegründeten Gesellschaft
sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, sondern eine ganz menschliche Autorität,
vorder wir uns gern beugen, da wir sicher sind, daß sie die Menschen, statt sie
zu knechten, befreien wird. Man kann sicher sein, daß sie tausendmal mächtiger
sein wird als all die göttlichen, theologischen, metaphysischen, politischen und
juristischen Autoritäten, die Kirche und Staat einsetzten, mächtiger als
Strafgesetze, Kerkermeister und Henker. Die Macht des Kollekti vgefühls oder der
öffentlichen Meinung ist schon heute eine sehr ernste. Die zu Verbrechen
Geneigten wagen selten, ihr zu trotzen, sie offen herauszufordern. Sie werden
versuchen, sie zu täuschen, aber sich wohl hüten, sie anzutasten, außer wenn sie
sich wenigstens von irgendeiner Minderheit gestützt fühlen. Kein Mensch, für wie
mächtig er sich auch halten mag, wird je die Kraft haben, die einstimmige
Verachtung der Gesellschaft auszuhalten; keiner kann leben, ohne sich nicht
wenigstens von der Zustimmung und Achtung irgendeines Teils dieser Gesellschaft
gehalten zu fühlen. Es muß jemand von einer ungeheuren und sehr aufrichtigen
Überzeugung getrieben werden, um den Mut zu finden, gegen alle zu reden und zu
handeln, und nie wird ein egoistischer, verdorbener und feiger Mann diesen Mut
haben.
Nichts beweist besser die natürliche und unvermeidliche Solidarität, dieses alle
Menschen verbindende Geselligkeitsgesetz, als dieser Umstand, den jeder von uns
täglich an sich selbst und all seinen Bekannten beobachten kann. Wenn aber diese
soziale Macht existiert, warum hat sie bis jetzt nicht genügt, die Menschen zu
moralisieren, zu humanisieren? Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Macht
bis heute selbst nicht humanisiert wurde, und dies geschah nicht, weil das
soziale Leben, dessen treuer Ausdruck sie immer ist, bekanntlich auf die
Gottesverehrung und nicht auf die Achtung des Menschen gegründet ist, auf die
Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Vorrecht und nicht auf die
Gleichheit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Menschen,
auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihr tatsächliches
Wirken, das immer mit den humanitären Theorien, die sie bekennt, im Widerspruch
steht, übte folglich beständig einen bösen und verderbenden, keinen moralischen
Einfluß aus. Sie unterdrückt nicht Laster und Verbrechen, sie schafft sie. Ihre
Autorität ist folglich eine göttliche, unmenschliche Autorität, ihr Einfluß ist
schlecht und verhängnisvoll. Sollen beide wohltätig und menschlich gemacht
werden? Entfesselt die soziale Revolution! Macht, daß alle Bedürfnisse wirklich
solidarisch werden, ; daß die materiellen und sozialen Interessen eines jeden
seinen menschlichen Pflichten gleich werden! Hierzu gibt es nur ein einziges
Mittel: Zerstört alle Einrichtungen der Ungleichheit, gründet die
wirtschaftliche und soziale Gleichheit aller, und auf dieser Grundlage wird sich
die Freiheit, die Sittlichkeit und die solidarische Menschlichkeit aller
erheben. Ich werde noch einmal auf diese Frage, die wichtigste des Sozialismus,
zurückkommen.
6) Die Wissenschaft, die das Erbgut aller wird, wird sich gewissermaßen dem
unmittelbaren und wirklichen Leben jedes einzelnen vermählen. Sie wird an
Nützlichkeit und Grazie gewinnen, was sie an Stolz, Ehrgeiz und doktrinärem
Pedantismus verlieren wird. Dies wird gewiß nicht verhindern, daß Männer von
Genie, die besser als die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen für wissenschaftliche
Spekulationen befähigt sind, sich ausschließlicher als andere der Pflege der
Wissenschaften widmen und der Menschheit große Dienste leisten werden, ohne
anderen sozialen Einfluß, den eine überlegene Intelligenz immer auf ihre
Umgebung ausübt, und ohne eine andere Belohnung zu suchen als den hohen Genuß,
den jeder hohe Geist in der Befriedigung einer edlen Leidenschaft findet.
7) Man muß die allgemeine Erfahrung, auf die sich die ganze Wissenschaft
gründet, wohl unterscheiden von dem allgemeinen Glauben, auf den die Idealisten
ihren Glauben stützen wollen; erstere ist die wirkliche Feststellung wirklicher
Tatsachen, letztere nur eine Vermutung von Tatsachen, die niemand gesehen hat
und die folglich mit der Erfahrung aller in Widerspruch stehen.
8) Ich weiß sehr wohl, daß man in den orientalischen theologischen und
metaphysischen Systemen und besonders in denen Indiens, den Buddhismus
einbegriffen, schon das Prinzip der Vernichtung der wirklichen Welt zum Nutzen
des Ideals oder der absoluten Abstraktion findet. Aber es trägt hier noch nicht
den Charakter freiwilliger und absichtlicher Verneinung, der dem Christentum
eigen ist, weil zur Zeit der Entstehung jener Systeme die eigentlich menschliche
Welt, die Welt des menschlichen Geistes und Willens, menschlicher Wissenschaft
und Freiheit, sich noch nicht so entwickelt hatten, wie dies später in der
griechisch-römischen Kultur der Fall war.
9) Ich halte es für nützlich, an eine übrigens wohlbekannte und durchaus
glaubwürdige Anekdote zu erinnern, die ein sehr wertvolles Licht auf den
persönlichen Charakter dieses Wiederauf-wärmers der katholischen Glaubenslehre
und auf die religiöse Aufrichtigkeit jener Zeit wirft. Chateaubriand brachte
seinem Verleger ein gegen den Glauben gerichtetes Werk. Der Buchhändler
bemerkte, der Atheismus sei nicht mehr Mode, das lesende Publikum wolle nichts
mehr davon wissen und verlange im Gegenteil religiöse Werke. Chateaubriand
entfernte sich, brachte ihm aber einige Monate später sein Werk: >Der Geist des
Christentums<
Übernommen von Anarchismus.at
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